Scheiß auf Baby-Flitterwochen

Wenn man ein Baby bekommt, dann sagen die Menschen sowas wie „Genießt die erste Kuschelzeit“ und „Schöne Baby-Flitterwochen“. Das habe ich beim ersten Baby schon nicht verstanden. Um ehrlich zu sein habe ich mittlerweile mittelschwere Gewaltphantasien, wenn ich sowas höre. Ja, der blanke Neid!

Ich stehe im Wohnzimmer und hänge die Wäsche auf. Zumindest versuche ich es. Ich heule und heule und kann die Tränenflut nicht aufhalten. Mein Mann trägt das schreiende Bündel durch die Wohnung. Wie so oft in den letzten Tagen und Wochen. Irgendwas in mir ist gerade zerbrochen: Es ist nicht besser geworden und es wird in naher Zukunft wahrscheinlich nicht besser werden.
Zu lange hatte ich Hoffnung. Ich hatte es zwei Mal geschafft, sie zum einschlafen zu bringen, sie dann abzulegen und sie hatte ein bis zwei Stunden geschlafen. Geiles Gefühl. Deshalb der Glaube, dass nun alles besser wird. Dass sie entspannter wird. Dass man sein Leben wieder bekommt.

Unsere Tochter hält sich den ganzen Tag wach. Von 9 Uhr morgens bis 21 Uhr abends schläft sie insgesamt oft nur vier Mal 10 Minuten.

Aber die letzten Tage – die Nächte sind ok – waren wieder furchtbar. Unsere Tochter hält sich den ganzen Tag wach. Von 9 Uhr morgens bis 21 Uhr abends schläft sie insgesamt oft nur vier Mal 10 Minuten. Den Rest der Zeit ist sie immer unzufrieden. Sie meckert, sie jammert und immer endet es in Schreien. Wir rotieren den ganzen Tag um das Schreien zu verhindern. Oder wenigstens das Schrei-Pensum gering zu halten. Autofahren, Kinderwagen, Federwiege, Tragetuch. Mit Hintergrund-Trubel oder abgeschottet, Pucken oder mit Tuch auf den Augen, auf der Seite oder auf dem Bauch liegend, Föhn-Geräusche, Schlaflieder oder Totenstille. Manchmal eventuell vielleicht nützt irgendwas etwas; und wenn, ist es auch nur ein Hinauszögern des Unvermeidbaren: Sie wird brüllen als würde jemand sie abstechen.

Phantomschreien ist fast noch schlimmer als echtes Schreien, weil man merkt, dass man wohl langsam den Verstand verliert.

Dauerhafter Lärm ist tatsächlich eine Foltermethode. Ich habe mittlerweile fast ständig starke Kopfschmerzen, in meinem Kopf klingelt es schrill. Manchmal höre ich ihr Schreien und ich kriege keine Luft. Oder mir wird schwindelig und kotzübel. Mein Mann sagt, ihm wird manchmal schwarz vor Augen. Wenn sie schreit funktioniert mein Gehirn nicht richtig. Da ist nur dieses dumpfe und taube Gefühl. Selbst wenn sie mal nicht schreit, stehe ich unter Strom. Denn wenn sie nicht schreit, warte ich darauf, dass sie schreit und überlege schon fieberhaft, was ich als nächstes ausprobiere, um ihr vielleicht 15 Minuten Zufriedenheit abzuringen. Oder ich höre in meinem Kopf bereits das Brüllen. Phantomschreien ist fast noch schlimmer als echtes Schreien, weil man merkt, dass man wohl langsam den Verstand verliert.

Bei jeder „Und? Wie geht‘s euch?“ Frage fangen die Tränen an zu laufen. Ganz automatisch. Ich will die Frage nicht hören, weil ich sie nicht beantworten will. Ich will nicht jammern, aber mittlerweile fehlt mir auch die Kraft zu lächeln und sowas dämliches wie „Ach, naja, ganz ok. Bissel anstrengend, aber ist ja normal mit Baby“ zu schwafeln. Die vielen Tipps kann ich auch nicht mehr hören. Jeder kennt wen, der wen kennt, bei dem dieses oder jenes geklappt hat. Höchstwahrscheinlich haben wir es schon probiert. Also lächeln wir wieder mal müde. Und nein, das Baby hat gerade keinen Hunger. Und ja, das Baby kriegt genug Luft im Tragetuch.

Wir gehen nirgendwo mehr gern hin. Wir können Gesellschaft nicht mehr genießen, obwohl wir sie so vermissen. Einer muss ständig versuchen unsere tickende Bombe davon abzuhalten zu explodieren. Unser Puls ist auf 180 und wir schwitzen als würden wir einen Marathon laufen. Wir hören nur mit halbem Ohr zu. Es macht keinen Spaß mit uns. Also bleiben wir Zuhause, wo uns die Decke auf den Kopf fällt, und hassen gleichzeitig dieses Gefühl der Einsamkeit.

„Alles ist gut. Wir sind alle da. Dein großer Bruder ist jetzt da.“ Er küsst sie. Er holt seine Lärmschutzkopfhörer.

Und wir streiten nun so oft. Wenn sie schreit werden wir zu schlechteren Versionen unserer Selbst. Wir reden ständig aneinander vorbei und sind wütend, weil der andere nicht versteht. Wir sind dauergenervt und ungeduldig. Der große Bruder ist dabei oft leidtragend. Keine Ahnung, wann wir das letzte Mal zusammen am Tisch gesessen und gegessen haben. Einer muss ja immer das brüllende Baby umhertragen. Wir verlangen zu viel von einem Dreijährigen und auch deshalb heule ich regelmäßig. Wenn wir mal wieder unfair zu ihm waren und ihn wegen irgendeiner Lapalie angemotzt haben. Er ist wunderbar. Er kann laute Geräusche eigentlich nicht ausstehen, aber seine kleine Schwester bekommt kein einziges böses Wort zu hören. Er sagt: „Alles ist gut. Wir sind alle da. Dein großer Bruder ist jetzt da.“ Er küsst sie. Er holt seine Lärmschutzkopfhörer, wenn es ihm zu viel wird.

Unser Alltag ist momentan fragil. Er kann leicht zerbrechen und uns von den Füßen reißen. Nun haben wir unsere Tochter im Sozialpädiatrischen Zentrum einer großen Klinik angemeldet. Wir wissen nicht mehr weiter. Wir haben Angst. Was für ein Scheißgefühl.