Auf der Suche nach Austausch
So viele Gedanken schwirren in meinem Kopf, und je nachdem wie die Tage hier so laufen sind es manchmal wirklich keine schönen Gedanken. Gedanken, für die ich mich manchmal selbst hasse, und ich frage mich oft, ob es denn nur mir so geht. Ich habe über Facebook eine Gruppe für Eltern von Babies mit Regulationsstörung gesucht; zusammen heult es sich doch besser als allein. Ich hab aber nichts nennenswertes gefunden. Das hat mich etwas gewundert. Im Internet gibt’s doch eigentlich alles.
Das, was noch am ehesten zutrifft, sind Gruppen für die sogenannten High-Need-Babies. Allerdings kann ich mich mit dem, was die meistens Mütter dort schreiben nicht identifizieren. Da ich auf der Suche nach Gleichgesinnten bin und mir meist eher zum Heulen zu Mute ist, schreckt es mich ab, dass ich das Gefühl nicht los werde, die High-Need-Babies werden wie Orden vor sich hergetragen. Als ob es eine besondere Eltern-Auszeichnung wäre so ein Kind zu haben (Also ich hätte da eins abzugeben, falls Jemand Bedarf hat?!). Man gehört dann diesem exklusiven Club an. Als ob man sich damit brüsten müsste oder könnte oder sollte. Da fallen dann ständig Sätze wie “Ja, mein Kind hat das erste Jahr quasi auf mir gelebt.” Oder “Ja, ablegen ging nie. Aber man kann es ja auch auf den Schoß nehmen, wenn man auf dem Klo sitzt.” Und das schreiben die und sind stolz wie Bolle darauf während sich mir die Nackenhaare aufstellen (nur im übertragenen Sinne, denn die sind nach der Geburt alle ausgefallen). Alles in mir wehrt sich. Ich will das alles nicht. Ich will nicht zum Club gehören. Meinen die das ernst? Haben die nicht das Gefühl etwas bekommen zu haben, was sie nicht bestellt haben? Sind die nicht wütend? Fühlen die sich denn nicht betrogen? …Oder haben sie Wut und Trauer schon hinter sich gelassen und sind sie vielleicht nur schon fünf Schritte weiter als ich?
Der High-Need-Baby-Platin-Club scheint mir also nicht die richtige Adresse um über das zu sprechen, was mir manchmal auf der Seele brennt. Wenn ich das erzählen will, was man doch nicht sagen darf. Um die Gedanken loszuwerden, die ich nicht haben will, die ich aber trotzdem manchmal habe. Wo aber kann ich sie loswerden? Und wo finde ich Gleichgesinnte, wenn es sie denn gibt?
Was man eher nicht denken sollte
Ich möchte erzählen, dass ich unsere Tochter manchmal dafür verantwortlich mache, dass die früher so wunderbare Beziehung zu ihrem großen Bruder erhebliche Blessuren davon getragen hat. Ich erkenne unseren Sohn teilweise nicht mehr wieder, so permanent überspannt und ruhelos ist er. Natürlich weiß ich, dass unsere Tochter nichts dafür kann. Ich weiß es und ich denke diese Gedanken trotzdem. Mein Mann kam einmal als Häufchen Elend vom Schrei-Spaziergang mit unserer Tochter zurück und sagte “Heute hab ich zum ersten Mal gedacht, dass wir immer noch diese coole, entspannte Familie wären, wenn sie nicht hier wäre”. Wir könnten heulen, weil wir so etwas denken.
Was ich meiner Tochter außerdem manchmal übel nehme: Eine meiner besten Freundinnen ist mit ihrem ersten Baby schwanger. Und ich bin nicht „dabei“. Als ich mit meinem ersten Kind schwanger war, waren wir Kolleginnen, wir haben uns fast täglich gesehen. Sie hat quasi meine Schwangerschaft „mitgemacht“, so nah war sie. Sie hat den Bauch wachsen sehen, wir haben alle möglichen Schwangerschaftsthemen besprochen, sie wusste, was mir Sorgen bereitete. Als unser Sohn zur Welt kam, hat er uns die ersten zwei Monate um den Verstand geschriehen. Meine Freundin war da und hat unser Baby bereits mit wenigen Wochen allein im Tragetuch durch den Park getragen, damit wir mal eine Runde schlafen konnten. Das erste Wort, das er gesprochen hat, war ihr Name.
Und jetzt? Ich bin nicht da. Ich bin so weit weg. Wenn ich den Kopf mal aus unserer Schreibabyblase stecke, ist ihr Bauch plötzlich wieder ein gutes Stück gewachsen. Ich weiß nicht, wie sie all die kleinen Fragen löst, die sich einem als Schwangere auftun. Ich weiß nicht, was ihr vielleicht Sorgen macht. Ich schaffe es noch nicht mal, regelmäßige Nachrichten zu schreiben um nachzufragen. Ich bin, wie für alles, zu erschöpft. Ich weiß, dass sie mir das alles (hoffentlich) nicht übel nimmt. Aber ich, ich bin so unendlich traurig darüber.
In Momenten der Erschöpfung habe ich schon darüber nachgedacht, wie es wohl wäre, wenn ich meinen Mann und unsere Kinder einfach verlassen würde. Einfach abhauen. Die kommen schon klar. Und wenn nicht, wär’s ja nicht mehr mein Problem. Ich bin weg… Natürlich sollte ich sowas nicht denken, ist mir schon klar. Als ich es meinem Mann „gebeichtet“ habe, war er nicht enttäuscht. Er wollte lieber mitkommen. Hach, wir teilen diese wunderbare Art von Galgenhumor, die schon einige unerträgliche Situationen erträglich gemacht hat. Dann haben wir uns aber geschworen, dass wir das Ding hier zusammen durchziehen. Die Option “Abhauen” fällt nun also weg.
Apropos Galgenhumor. Es ist ein Evergreen zwischen meinem Mann und mir, dass wir so tun als würden wir unsere Tochter, wahlweise auch beide Kinder, einfach irgendwo „vergessen“. Bei Oma und Opa. Oder im Supermarkt. Wenn Jemand sie „ach, so niedlich“ findet, dann bieten wir immer gern an, sie mitzunehmen. Und wenn wir liebevoll zu unserer Tochter sagen „Hör auf zu schreien oder wir geben dich zur Adoption frei“ dann passen wir auf, dass niemand in der Nähe ist, der das Jugendamt alarmieren könnte. Achja, das gilt auch für „Hör jetzt auf zu Grabbeln oder ich hack‘ dir die Hände ab“.
Dann ist da noch die Wut auf unsere Tochter, wenn ich versuche sie zu stillen und sie gerade so angespannt ist, dass sie es nicht auf die Reihe kriegt zu trinken. Wenn sie heult, weil sie Hunger hat und sich gleichzeitig mit aller Kraft von der Brust wegstößt. Sie überstreckt sich und strampelt mit Armen und Beinen, dass sie mir fast vom Schoß fällt. Wenn sie zwei Mal nuckelt, den Kopf wegdreht, aufheult, wieder drei Mal nuckelt, den Kopf wegdreht und aufheult und das ganze in Endlosschleife schon 20 Minuten so geht… dann erwische ich mich dabei, wie ich wütend denke: “Man, dann verhungere halt; ist mir doch scheißegal.” Und manchmal muss ich sie von mir weglegen, weil ich so geladen bin, dass ich grob werden möchte. Es ist ein fürchterliches Gefühl.
Ich habe überlegt, ob ich mich einfach in die Psychiatrie gehe, weil ich das Gefühl habe, den Verstand zu verlieren. Es fühlt sich an als würde das Schreien und diese permanente Unzufriedenheit unserer Tochter eine Gehirnzelle nach der anderen abtöten. Übrig bleibt nur Apfelmus, oder sowas in die Richtung. Denken geht nur noch verzögert und ist so l-a-n-g-s-a-m. Manchmal stehe ich neben mir, während ich versuche einen Sachverhalt nachzuvollziehen. Irgendwo in meinem Kopf weiß ich, dass es nichts komplexes ist, und trotzdem passiert da bei den grauen Zellen… nichts, nada. Weißes Rauschen. Und mein Ich, das neben mir steht, blafft mein Ich an: „Das ist doch nicht so schwer, reiß dich zusammen, verdammt.“ Aber mein Ich glotzt nur blöd. Ich glaube, ich hab mich noch nicht mal verstanden.
Immer wenn ich völlig verzweifelt bin und so erschöpft, dass ich nicht mehr weiß, wie lange ich noch durchhalte, dann überlege ich, wohin ich unser Baby abgeben könnte. In solchen Momenten fühle ich mich nicht mehr in der Lage auf lange Sicht für unser Baby zu sorgen. Dann denke ich, dass Jemand mit mehr Geduld und Liebe das besser könnte und ich weine bei diesem Gedanken. Mehr als einmal habe ich mich wie die größte Versagerin der Welt gefühlt. Ich habe die Webseiten der Berliner Jugendämter nach einer Notfall-Telefonnummer durchsucht und bin, zumindest auf Anhieb, nicht fündig geworden. Ich habe sogar, ohne Scheiß, gegoogelt, wie groß eine Babyklappe ist. Ich wollte wissen, ob unsere Tochter mit Größe 68 da noch durchpassen würde. Tatsächlich habe ich mir eine Babyklappe wie eine Katzenklappe vorgestellt. Mit den Füßen zuerst könnte es gehen; man muss ja auf den Kopf aufpassen… Gerade kann ich sogar darüber schmunzelnd den Kopf schütteln. Aber nur, weil es mir heute verhältnismäßig gut geht.
Heute kann ich das alles aufschreiben, weil ich es mit Distanz erzählen kann. Es fühlt sich an als wären diese Gedanken schon lange her. Trotzdem: Ich bin mir bewusst, dass ich schon morgen wieder am Rande des Zusammenbruchs stehen kann. Die Grenze zwischen “soweit eigentlich ok” und “alles bricht über mir zusammen” ist hier oft nur eine zermürbende Schreiattacke. Auf dieser Grenze, dieser schmalen Linie, bewegen wir uns Tag für Tag. Ständig mit der Angst, einmal mehr zur falschen Seite runterzufallen, aber diesmal nicht wieder hochzukommen. So eine Mistkakke.
where are you now, when the world is crumbling
Oh I, I hear you say:
Look up, child