Wenn ein Baby exessiv untröstlich weint und gründliche Untersuchungen physische Probleme (beispielsweise Nahrungsmittelunverträglichkeiten oder das KISS Syndrom) ausgeschlossen haben, dann bleibt die bohrende Frage „Ja, und nun?“. Nach der Untersuchung durch die Kinderärztin, werden wir im SPZ von einer lieben Ergotherapeutin betreut mit der wir nun regelmäßige Termine haben. Sie erklärt uns genauer die Zusammenhänge von Regulation und Reizverarbeitung und sie erklärt uns, wie wir mit dem Schreien umgehen können.
Randnotiz: Als wir uns mit unserem Baby in Behandlung begeben haben, haben wir hingeschaut, nach welchen Grundsätzen bei den Therapien gearbeitet werden würde.
Die Dokumentation „Elternschule“ ist immernoch in vieler Munde und auch mein Mann und ich haben sie uns angeschaut. Wir fanden die Bilder verstörend und teilweise wirklich sehr schwer zu ertragen. Aber wir könnten mit unserer Tochter theoretisch dort zur Therapie gehen, damit sie aufhört uns mit ihrem Schreien zu manipulieren um ihren Willen zu kriegen (Was für ein Menschenbild dahintersteht! Nicht unseres.). Wir wussten zu der Zeit schon, dass wir mit ihr Hilfe in Anspruch nehmen würden, deshalb verunsicherte uns der Film schon ein bißchen. Würde man so etwas von uns verlangen? Mein Mann sagte „Nee! Ich trage sie lieber den ganzen Tag schreiend umher und verzichte auf jegliche menschliche Interaktion. Aber DAS machen wir nicht!“. Ich sag euch, das war schöner als ein „Ich liebe dich“.
Zum Glück haben wir auf unserer Schreibabyreise bisher wirklich keine Ärzte und Therapeuten getroffen, die das in irgendeiner Weise gut geheißen hätten.
Aber was genau mache ich denn nun mit einem Schreibaby, wenn ich schon alle Tipps zur Baby-Beruhigung tausendmal probiert habe und überhaupt nichts hilft. Wenn ich weiß, mein Baby wird schreien und ich kann es nicht verhindern. Die Antwort ist so simpel wie nervenaufreibend: Ich lerne das Schreien auszuhalten, da ich es nicht verhindern kann. Ich lerne das Schreien zu begleiten, da ich es nicht verhindern kann. Ich lerne das Schreien zu akzeptieren, da ich es nicht verhindern kann. Aushalten bleibt als logische letzte Möglichkeit.
Ich muss das Schreien nicht (mehr) verhindern.
Es ist so schwer zu akzeptieren, weil es gegen alles geht, worauf wir Eltern gepolt sind: Baby schreit-Baby hat Problem-Eltern müssen Problem finden-Eltern müssen Problem beheben-Baby hört auf zu schreien. Für das Baby ist dieses System lebenswichtig, deshalb kann Babyschreien uns Eltern wirklich körperliche Schmerzen zufügen.
Alles in uns drängt also danach, das Schreien „abzustellen“. Sich selbst darauf einzuschwören, das Schreien nicht beheben zu wollen, ist ein unfassbar kräftezehrender Prozess. Und sind wir ehrlich, das mit der Akzeptanz klappt mal besser und mal schlechter, an manchen Tagen überhaupt nicht. Aber irgendwo ist es trotzdem ein bisschen befreiend. Während man panisch die letzten Wochen und Monate damit beschäftigt war, den AUS-Knopf zu finden, kommt plötzlich jemand und sagt: „Du bist nicht zu dämlich um den AUS-Knopf zu finden. Es gibt einfach keinen AUS-Knopf, deshalb musst du ihn nicht (mehr) suchen.“
Das Schreien ist die aufgeregte Erzählung meines Babys.
Mein Baby hat Schwierigkeiten sich von den Umgebungsreizen abzugrenzen. Es nimmt viel mehr wahr als andere Babies. Es saugt über einen viel längeren Zeitraum seine Umgung auf. Es muss also auch viel mehr verarbeiten als andere Babies. Da es nicht sprechen kann, kann es mir ja nicht erzählen, wie furchtbar aufregend die bewegten Blätter am Baum waren. Oder wie ohrenbetäubend die Sirene der Feuerwehr, die vorbei fuhr. Oder wie irritierend das Hell-Dunkel-Hell-Dunkel bei der Fahrt durch den Tunnel. Oder die Kälte am Po beim Wickeln. Oder die große, wuselige Familie am Abendbrotstisch. All das, kann mir mein Baby nicht mit den Worten „Man, das war ganz schön viel alles“ erzählen. Es hat nur die Möglichkeit zu schreien. Wenn ich unsere Tochter beim Schreien begleite, hilft es mir manchmal, wenn ich überlege, was sie die letzten Stunden alles erlebt hat. Und ich stelle mir dann vor, wie sie es mir gerade erzählt.
So ein Schrei-Zyklus hat tatsächlich Ähnlichkeiten mit einer gut erzählten Geschichte. Der Spannungsbogen geht auf und ab, mal mehr (An)Spannung, mal weniger. Da sind die Spitzen, die einem das Trommelfell sprengen könnten. Da ist das Schluchzen und Quacken, das so vor sich hin plätschert, ein bißchen wie vor sich hin gelabert. Ein paar Mal wird das Ende angetäuscht bevor es dann noch mal richtig los geht.
Wenn ich es aushalten muss, kann ich es mir wenigstens so bequem wie möglich machen.
Der Punkt war unserer wunderbaren Ergotherapeutin immer sehr wichtig und indem ich hier alles sortiere und aufschreibe, merke ich, wie Recht sie doch mal wieder hat. Das Schreien kann ich nicht beeinflussen, aber die Rahmenbedingungen und meine Umgebung schon. Wichtigstes Hilfsmittel: Lärmschutzkopfhörer. Die filtern die fiesen, schrillen Nuancen für die Ohren. Außerdem: Gute Position finden. Da braucht es ein paar Versuche um sich einzufuchsen, aber irgendwann hat man etwas für sich gefunden. Wir legen uns meistens mit unserer Tochter ins große Bett – weich, ruhig und viel Platz. In der Akut-Schreiphase liegen wir dicht bei ihr und legen ihr mit etwas Druck die Hand auf die Brust. Wenn es grad mal etwas weniger ist, ist genug Platz um sich vorsichtig etwas zu bewegen (Ich habe tatsächlich die ein oder andere Yoga-Übung gemacht. Es ist ätzend, wenn einem nach einer Dreiviertelstunde ein Arm oder ein Bein eingeschlafen ist, man sich aber leider so hingesetzt hat, dass man sich nicht bewegen kann.) Außerdem haben sich für uns als praktisch erwiesen: Trinken, Handy, Buch. Manchmal geht ein Schrei-Zyklus über Stunden, da hat man sich besser „gut eingerichtet“.
Lieber einmal zu viel ablegen als einmal zu wenig.
Manchmal hilft alles nichts… das Wissen, die Theorie, die guten Vorsätze. Ob man ein Schreien gut begleitet bekommt, ist immer auch von der eigenen Tagesform abhängig. Manchmal ist es die Hölle auf Erden und bevor Wut oder Verzweiflung zu groß werden, sollte man sein Baby sicher ablegen und draußen tief durchatmen. Schüttel niemals dein Baby! Geh lieber einmal mehr als zu wenig raus.
du wankst und taumelst, deine füße zerschunden
drehst dich im kreis, bis der tag verschwimmt
und hoffst am ende, dass die nacht dich noch nimmt […]
gib mir das, ich kann es halten
wenn du es später noch willst
kriegst du es wieder, dann ist alles beim alten