Der dritte Teil einer kleinen Reihe über die sogenannte Bedürfnisorientierte Erziehung. Oder Bindungsorientierte oder Beziehungsorientierte Erziehung. Abgekürzt BO. Gerne wird auch der englische Name „Attachment Parenting“ (oder auch „AP“) verwendet. Teil 1: Prägung und Bauchgefühl. Teil 2: Warum beziehungsorientiert? Teil 3: Warum unsere Kinder nicht hören müssen.
Übrigens: Nora Imlaus „Der Familienkompass“ beschäftigt sich mit all diesen Themen. Sie erklärt es noch hundert Mal besser, und dazu wissenschaftlich fundiert. Ich hab das Buch erst später gelesen, sonst hätte ich einfach eine Buchzusammenfassung geschrieben. Da sie das hier wohl nie lesen wird, kann ich ja peinlich Fangirl-mäßig sagen: Lest ihr Buch. Oder alle ihre Bücher. Sie ist echt ne coole Socke. Und super klug 🙂
Blöde Mist-Idee
Manchmal sind mein Mann und ich tierisch genervt von diesem, unserem, Wesen mit dem riesengroßstarken Willen. Immer wieder gibt es Situationen in denen wir meckern: „Warum kannst du nicht EIN VERDAMMTES MAL hören?!“ Wenn ich ihm diese Frage entgegen schleudere, flüstert eine Stimme bereits in meinem Kopf die Antwort (und manchmal klingt sie richtig gehässig): „Weil ihr euch dagegen entschieden habt, dass euer Kind hören muss.“ „Jaja, toll,“ maule ich mich dann genervt selbst an: „War ’ne saublöde Idee, merk‘ ich selber!“
Wenn ich ein bisschen geatmet habe und wieder geradeaus gucken kann (soweit es mir möglich ist, höhö), weiß ich natürlich auch wieder, warum wir uns dagegen entschieden haben, dass unser Kind klassisch „hören“ muss.
HÖREN als Gradmesser der guten Erziehung
Ein bisschen verrückt ist das mit dem „Hören“ schon. Aber wir sind alle so geprägt, dass wir das nur bedingt in Frage stellen. „Kinder, die was wollen, kriegen was auf die Bollen“ oder „Kinder soll man sehen, aber nicht hören“ oder „Warst du denn auch brav, damit du was vom Weihnachtsmann bekommst?“. Die Liste lässt sich ewig fortsetzen. Kinder sind am besten still und angepasst. Sie sagen niemals NEIN zu einem Erwachsenen. Sie tun auf keinen Fall einen eigenen Willen kund. Sie tun das, was ein Erwachsener ihnen sagt. Kinder fordern nicht ein, sondern Kinder fragen höflich, wenn sie etwas möchten. Kinder geben keine Widerworte. Ja, ich weiß. Wenn es da so steht, auch in der Vielzahl dessen, was ein gut erzogenes Kind ausmacht, dann fühlt es sich nicht richtig an, oder? Immerhin sind schon einige Eltern davon weg. Das Kind muss nicht immer hören. Klar, es darf einen eigenen Willen haben. Vielleicht nicht so dolle. Ein bisschen eben. Das ist das Problem – auch unser, ich nehm uns da gar nicht raus: Entweder das Kind ist frei oder nicht. Ein bisschen Freiheit gibt es nicht.
Wenn dir dein Kind kackendreist -so ein kleiner Wicht, Alter, was will der denn? – ein „Nee, mach ich aber nicht“ entgegnet… huijuijui, dann ist man ganz schnell auf 180 und all die alten Prägungen sagen „Ja bitte? Sie haben gerufen? Das willst du dir doch wohl nicht bieten lassen!“
Renn‘ hier nicht rum! Komm jetzt her! Iss endlich auf! Hör‘ mir zu! Lauf nicht vor! Trödel nicht so! Lass das in Ruhe! Sei jetzt still! – Ob wir unser Kind gut oder schlecht erzogen haben, bemisst sich also meist daran, ob das Kind hört. Auch der gesellschaftliche Druck ist groß, denn diesen Erziehungsgradmesser haben wir alle kollektiv in uns. Deshalb ist ein „Nee, mach ich nicht“ von deinem Kind auch gleich dreimal so schlimm, wenn andere Erwachsene es mitkriegen. Du weißt, dass die Anderen wissen, dass du bei der Erziehung versagt hast. Prost Mahlzeit.
Übergänge zu Gewalt sind fließend
Wenn unser Kind „frech“ ist und wir entspannt und ausgeschlafen sind, können wir das meist gut ab. Wir kontern entsprechend, lachen gemeinsam und die Situation ist oft recht schnell entschärft. Aber wenn unser Kind „frech“ ist und wir gerade sowieso völlig gestresst und übermüdet sind, dann wollen wir vor allem, dass es funktioniert. Das Kind soll funktionieren, die Situationen sollen funktionieren.
Dann sind wir auch sehr schnell bereit Macht und Druck auf unsere Kinder auszuüben. Wir drohen. Wir erpressen. Wir strafen. Wir ignorieren. Wir erzwingen. Wir schüchtern ein. Vielleicht nutzen wir auch unsere körperliche Überlegenheit. Die Übergänge zur Gewalt sind fließend. Auch das wollen wir uns lieber nicht eingestehen. Nein, ich rede nicht nur von offensichtlicher körperlicher Gewalt. Aber Einschüchterung, zum Beispiel, ist auch Gewalt. Hast du schon mal so rumgebrüllt, dass dein Kind eingeschüchtert war? Oder hast du dein Kind schon mal zu etwas gezwungen, was es nicht wollte? Ja?! Willkommen im Club. Sich selbst einzugestehen, dass wir unseren Kindern gegenüber Gewalt ausüben, ist vielleicht der erste Schritt, dies weniger zu tun. Hören meint doch letztlich „gehorchen“. Noch krasser ausgedrückt, aber ebenfalls eine Abwandlung vom Hören: „Hörig sein“. Da ist uns dann doch unwohl: „Naja, es muss ja nicht IMMER hören. Das wäre ja auch zu krass.“ Damit meinen wir aber meistens auch nur, dass das mit dem „Hören“ dann nicht so wichtig ist, wenn es sowieso von sich aus tut, was ich will.
Starke Kinder „hören“ nicht
Was passiert, wenn Kinder hören müssen? Wenn sie wohl erzogen niemals anecken? Diese Kinder haben viele Dinge NICHT gelernt, die sie als Erwachsene mühsam „nachlernen“ müssen. Kennst du Menschen, die überlastet sind, weil sie nicht NEIN sagen können? Kennst du Menschen, die denken, dass sie selbst nicht wichtig sind und sowieso nichts verändern können? Dass ihre Meinung keinen Wert hat und ihre Stimme nicht laut genug ist, um gehört zu werden? Kennst du Menschen, die mühsam den Umgang mit Emotionen lernen müssen, weil sie sie als Kinder immer „runterschlucken“ mussten? Kennst du Menschen, die eigentlich nie genau wissen, was sie wollen, weil sie nie gelernt haben einen Willen haben zu dürfen? Kennst du Menschen, die ständig in ungesunden Beziehungen festhängen, weil sie nicht gelernt haben, was ihre eigenen Grenzen sind und wie sie diese verteidigen können? Dies können (nicht müssen) alles Folgen einer Erziehung sein, die darauf aus ist, dass Kinder hören müssen.
Übrigens: Kinder, die wissen, dass auch Erwachsene nicht alles dürfen, die wissen, dass sie zu Erwachsenen NEIN sagen dürfen und sollen, die gelernt haben, dass sie ihre eigenen Grenzen lautstark verteidigen dürfen, fallen seltener Missbrauch zum Opfer. Aber natürlich ist eine bedürfnissorientierte Erziehung keine Garantie!
Wenn ich möchte, dass mein Kind eigentlich zu einem Erwachsenen wird, der stark und selbstbewusst ist und sich traut seine Meinung zu vertreten, dann sollte ich meinem Kind diese Dinge nicht erst zugestehen, wenn es 18 Jahre alt wird. Sondern von Anfang an. Ich kann meinem Kind immer wieder sagen, dass seine Stimme gehört wird und dass sein Wille wichtig ist. Aber ob ich das wirklich ernst meine, erkennt mein Kind doch dann, wenn wir unterschiedlicher Meinung sind. Wenn mein Kind NEIN sagt und ich aber ein JA will. Was dann? Übergehe ich dann mein Kind? Ich weiß, wir tun das eigentlich immer mit allerbester Absicht! Wir wollen dem Kind nichts Böses. Wir sind der Meinung, dass das nun wichtig und richtig ist. Aber trotzdem drängen wir das Kind mit unserer Machtausübung in eine machtlose Position. Machtlosigkeit ist nie ein Gefühl, das einen Menschen stark werden lässt.
Aber, aber, aber
Aber wie genau soll das denn alles aussehen? Das kann doch nicht funktionieren.
Bedeutet das, dass mein Kind alle Entscheidungen trifft? Nein. Bedeutet das, mein Kind kann „machen, was es will“? Nein. Bedeutet das, es gibt keinerlei Regeln? Nein. Bedeutet das, dass ich immer machen muss, was mein Kind will? Nein. Bedeutet das, mein Kind hört niemals ein NEIN? Nein. Bedeutet das, ich bin jetzt nicht mehr Elternteil, sondern eigentich nur noch Kumpel? Nein. Bedeutet das, dass es mit Beziehungsorientierter Erziehung immer harmonisch läuft und nie Streit und Stress gibt? Haha. Hahahaha. NEIN.
Und was soll das konkret bedeuten? Was ist mit dem Straßenverkehr? Was ist mit Zähneputzen oder Anziehen? Was ist mit ärztlichen Untersuchungen? Was ist mit Schlafengehen? Was ist mit Fernsehen und Tablet? Was ist mit Hausaufgaben? Was ist mit Ernährung und vor allem Süßigkeiten? Und was ist mit den höflichen Umgangsformen wie Bitte und Danke und Entschuldigung? Und wie soll das später mit Schule und Job werden, wenn das Kind nie gelernt hat sich unterzuordnen? Das sind so die „klassischen Einwände“, die ich höre, wenn ich sage, dass mein Kind nicht hören muss.
Alles gute Einwände. Aber genauso wenig wie die Antwort niemals „Da muss das Kind halt durch!“ sein sollte, gibt es auch kein allgemein gültiges „So muss das geregelt werden!“. Jedes Kind ist anders, jede Familie ist anders, jede Beziehung ist anders, jede Situation ist anders. Eigentlich finde ich genau das so cool an der beziehungsorientierten Erziehung: Es kommt immer drauf an. Es kommt auf euch an. Es ist schnurzpiepegal, was und wie Hinz und Kunz das machen. Es kommt auf euch an. Nur auf euch und darauf, was euch ausmacht.
trotzdem: Beziehung vor Erziehung
Also trotz der berechtigten ABERS: Beziehungsorientierte Erziehung bedeutet, wir als Eltern entscheiden uns dafür, dass das große Machtgefälle zwischen uns Erwachsenen und unseren Kindern ein bisschen kleiner wird. Wir begeben uns auf Augenhöhe zu unseren Kindern. Weil Macht ein Beziehungskiller ist! Ihr kennt vielleicht den Spruch in Bezug auf die Partnerschaft „Willst du glücklich sein oder willst du Recht haben?“ – Warum sollte es mit Blick auf die Beziehung zu unseren Kindern anders sein. Möchte ich einen Machtkampf gewinnen? Oder möchte ich in Verbindung zu meinem Kind bleiben? Wenn ich mein Kind zu etwas zwinge, das es nicht möchte, dann ist es wahrscheinlich, dass unsere Beziehung darunter leidet.
Sich immer wieder zu fragen, was mein Kind braucht, damit wir eine bestimmte Situation oder ein bestimmtes Problem gemeinsam geregelt kriegen, ist anstrengend. Denn wir als Eltern müssen kreativ sein. Wir als Eltern müssen gut erklären. Wir als Eltern müssen Kompromisse eingehen. Dann müssen wir wieder erklären. Wir als Eltern müssen diskutieren. Und auch mal unsere Meinung revidieren. Ach, und erklären. Wir als Eltern müssen unseren Kindern vertrauen, dass wir gemeinsam einen guten Weg miteinander finden, auch wenn wir nicht immer einer Meinung sind. Vertrauen müssen wir dabei nicht nur unseren Kindern, sondern auch uns selbst.
Ach, und erwähnte ich schon, dass wir uns verdammt nochmal den Mund fusselig reden?! Ich bin überzeugt davon, dass es sich lohnt.