Beziehungsorientiertes Schnarchen: Das leidige Thema „Kinderschlaf“

Total emotional

Gibt es im Elternuniversum ein noch mehr diskutierteres Thema als Baby- und Kinderschlaf? Ich glaube nicht. Aber das ist ja auch kein Wunder. Schlaf ist emotional bzw. spätestens, wenn er fehlt, wird es emotional. Bei mir ist das so. Mit Schlafmangel sieht meine Welt furchtbar hoffnungslos und verzweifelt aus. Da bin ich auch nicht mehr rational. Mein Hirn funktioniert nicht. Dazu kommen dann körperliche Schmerzen, bei mir in Füßen und Beinen, und vermehrt Kopfschmerzen und Kreislaufbeschwerden. Man, es kann echt die Hölle sein. Es ist also kein Wunder, dass Eltern nach Lösungen suchen, um irgendwie zu überleben.

„Jedes Kind kann schlafen lernen“ mit kontrolliertem Schreienlassen

So mit einem halben Jahr geht es dann häufig los, dass die Eltern gefragt werden, ob das Kind durchschläft und ob das Kind „etwa immer noch bei den Eltern schläft“. Es hält sich hartnäckig die Meinung, dass ein Baby von sechs Monaten „in der Lage sei, durchzuschlafen“. Häufig auch mit dem Hinweis, dass die Eltern nachts nicht mehr stillen bzw. Flasche geben sollten, denn das Baby brauche die Nahrung nicht mehr. Bei der Frage nach dem WIE kommen dann die Ratschläge, das Baby ins eigene Zimmer auszuquartieren und auf Weinen nicht zu reagieren. So „lernt“ das Baby, dass es mit diesem Verhalten nicht weiterkommt. Um das Ganze humaner zu gestalten, gibt es dann das zugehörige Schlaftraining, bei dem das Baby kontrolliert schreien gelassen wird. Bei dem die Eltern also nach einiger Zeit des Schreienlassens wieder zum Baby zurückgehen. Dieses Vorgehen wird immer wieder wiederholt und die Zeitabstände dabei ausgeweitet.

Der Denkfehler ist […]: Wenn ich Kinder zu feinfühlig […] behandele, dann werden sie unselbstständig. […] Wir wissen mittlerweile, dass genau das Gegenteil der Fall ist. Wenn ich gut und sicher gebunden bin […], hab ich so viel Basis, überhaupt zu erkunden […], ich habe Lust, mich abzulösen von meinen Eltern.

Julia Theeg („Schlaftrainings aus Bindungssicht“ Julia Theeg und Inke Hummel)

Dass solche Schlafprogramme gewaltvoll sind und schädlich sein können, wird vor allem in bindungsorientierten Kreisen so gesehen. Es gibt mittlerweile viele Artikel und Berichte dazu. Ich habe in letzter Zeit einiges gelesen und angeschaut und finde dieses Gespräch mit am Besten, um sich mit dem Thema auseinander zu setzen.

Schlaftrainings aus Bindungssicht – Julia Theeg und Inke Hummel

Im Schnelldurchlauf: Ein Baby oder Kleinkind allein schreienzulassen, bedeutet, das das Kind enormen Stress oder Panik oder vielleicht sogar Todesangst ausgesetzt ist. Babies sind völlig hilflose Wesen und auf den Schutz ihrer Bezugspersonen angewiesen. Ein Baby weiß nicht, dass es im sicheren Zimmer liegt. Ein Baby weiß nicht, dass die Eltern gleich nebenan sind. Sich abzuwenden bedeutet, dem Baby seine Sicherheit zu entziehen. Ein Baby, das aufgehört hat zu schreien, hat nicht gelernt zu schlafen, sondern die Hoffnung auf Schutz aufgegeben. Dabei ist es egal, ob das Baby zehn Minuten oder eine Stunde schreien muss. Ein Baby hat kein Zeitgefühl. Es lebt im Hier und Jetzt und im Hier und Jetzt hat es Panik. Ich kann dieses Vorgehen nur als ziemlich grausam emfinden.

Kinderschlaf in der Beziehungsorientierten Erziehung

Nun habe ich leider oft das Gefühl, dass es in der Beziehungsorientierten Erziehung nur das Familienbett als akzeptabel gilt. Ich habe hier schon mal über die Schwierigkeiten geschrieben, die ich mit der Beziehungsorientierten Erziehung habe, und das Thema schlägt in eine ähnliche Kerbe. Wer seine Kinder liebt, der lässt sie bei sich im Bett schlafen. Wieder mal bitte nicht falsch verstehen: Ich habe überhaupt kein Problem damit, wenn Eltern und Kinder in einem Bett schlafen. Meinetwegen auch bis das Kind 21 Jahre alt ist, so lange alle damit glücklich sind. Als ich das erste Mal schwanger war, haben wir Eltern uns auch darauf eingerichtet für die nächsten Jahre bettlägerige Mitbewohner zu haben. Wir haben uns sogar darauf gefreut und uns das ganz kuschelig vorgestellt. Guess what, manche Menschen stehen nicht so auf kuscheln. Als unser wuselige Sohn ca. 10 Monate alt war, haben wir die weiße Fahne gehisst und sind aus dem Schlafzimmer ausgezogen. Siehe da, plötzlich haben alle wunderbar entspannt geschlafen.

Was mich also stört, ist die Allgemeingültigkeit des Familienbettes als das einzig Wahre und Schöne. Das Allheilmittel des Kinderschlafes. Andere Möglichkeiten werden oft gar nicht in Betracht gezogen und wenn man in einer BO-Community unterwegs ist und den Wunsch äußert, dass das Kind mal so langsam im eigenen Bett schlafen solle, muss man sich schon auf Gegenwind gefasst machen. Dann wird versucht, dass Familienbett wieder schmackhaft zu machen und auf das Nähebedürfnis der Kinder hingewiesen (und wie ich finde ein ganz schön schlechtes Gewissen gemacht)… und das war’s. Ob der Familie damit wirklich geholfen ist, wage ich zu beweifeln.

Gerade beim Thema Schlafen ist mir das zu sehr schwarz oder weiß. Mach‘ ich Einschlafbegleitung oder mach ich Schlafprogramm. […] Es gibt ganz viel dazwischen: […] Wo kann man kleine Schräubchen drehen […], damit die Nacht gelassener wird?!

Inke Hummel („Schlaftrainings aus Bindungssicht“ Julia Theeg und Inke Hummel)

Es kann manchmal der Eindruck entstehen, dass eine liebevolle und bedürfnissorientierte Erziehung nur mit Familienbett möglich ist und das finde ich ziemlich gefährlich. So wenden sich mit Sicherheit Eltern ab, die Hilfe und eine individuelle Lösung für ihre Familie gebraucht hätten. Und wo wenden diese Eltern sich bei der nächsten großen Erschöpfung und Verzweiflung hin? Genau. Als letzten Strohhalm versuchen sie dann vielleicht doch ein Schlafprogramm mit Schreienlassen. Hach, ich würde mir so wünschen, dass die BO-Community (mir ist schon klar, dass es DIE BO-Community nicht gibt) von ihren starren Dogmen loskommt und mehr auf die wundervollen flexiblen Grundsätze schaut, damit – völlig überspitzt gesagt – sich dort auch Eltern wiederfinden können, die nicht der Öko-Hippie-Friedensbewegung angehören.

Begrifflichkeiten der Schlafberatung: Schlaftraining ist nicht gleich Schlaftraining

Viele Eltern haben meiner Meinung nach solche Angst, dem Bedürfnis des Kindes nicht gerecht zu werden, dass sie ihr eigenes wichtiges Bedürfnis nach Regeneration und Schlaf über lange Zeit wegdrücken können. Dass die Schlafsituation für alle Familienmitglieder zufriedenstellend sein sollte, nicht nur für die Kinder, wird oft übersehen.

Da die gewaltvollen Schlafprogramme/Schlaftrainings zu Recht als inakzeptabel gelten, ist damit oft gleichzeitig alles ins Abseits geraten, was als „Manipulation“, „Herumprobieren“, „trainieren“ o. ä. des Kinderschlafes gelten könnte. Es gibt aber bedürfnis- und bindungsorientierte Schlafberatungen. Dort wird individuell mit den Familien gearbeitet, es gibt also keine Allgemeinlösungen. Der Alltag wird angeschaut, die Raumsituation, der Charakter des Kindes, die Abendroutine. Meiner Meinung nach müsste nach jedem Satz, in dem von gewaltvollen Schlafprogramm dringend abgeraten wird, sofort der Hinweis auf eine beziehungsorientierte Schlafberatung kommen. Eine einheitliche bindungsorientierte Ausbildung haben die Schlafberater*innen von „1001 Kindernacht“. Aber auch viele andere bindungsorientierte Familienberater*innen und Elterncoaches bieten Schlafberatungen an. Manchmal wird diese Arbeit auch „Schlaftraining“ genannt, aber das ist etwas völlig anderes als ein gewaltvolles Schlaflernprogramm. Man sollte also immer genau hinschauen.

Auf die Haltung kommt es an

Jap, ich finde es wichtig, dass über bindungsorientierte Schlafberatung informiert wird, wenn über’s nicht-schreien-lassen gesprochen wird. Fast noch wichtiger finde ich es, Eltern dahingehend zu entlasten, dass nicht die Welt unter geht, wenn das Baby doch mal allein geschrien hat. Und dass es, wenn in einem die blinde Wut hochkocht, sogar das unbedingt Richtige ist, das Baby abzulegen und den Raum zu verlassen um sich zu beruhigen. Jährlich sterben in Deutschland 100 bis 200 Kinder durch ein Schütteltrauma.

Ich glaube, dass gerade Schreibaby-Eltern emotional immer wieder zwischen „bloß nicht allein schreien lassen“ und „ich pack‘ das nicht mehr, ich raste gleich aus“ Hin und Her geworfen werden. Ohne einen Beweis zu haben bin ich sicher, dass Schreibaby-Eltern sowohl einer größeren Gefahr unterliegen, dass ihr Baby mal alleine schreit, als auch der Gefahr, ihr Baby vor Wut zu schütteln. Wirklich großer Mist. Diese emotionale Achterbahnfahrt ist der Horror und vor allem begleitet einen das Dauergefühl: So oder so, ich mache es immer nur falsch. Ich habe hier darüber geschrieben, wie wichtig ein Bewusstsein für solche Grenzsituationen ist.

Ein Kind wird ja nicht psychisch auffällig, oder hat sofort ne Selbstwertstörung, wenn es nicht immer prompt und feinfühlig beantwortet wurde […]. Aber es darf keine Haltung sein!

Julia Theeg („Schlaftrainings aus Bindungssicht“ Julia Theeg und Inke Hummel)

Es ist wichtig, dass Eltern den Unterschied verstehen, zwischen einem emotionalen Notfall von „Ich gehe jetzt auf Abstand, damit nichts passiert“ und der bewusst getroffenen Entscheidung „Ich kappe die überlebenswichtige und schutzbringende Verbindung zu meinem Baby, weil es etwas lernen soll“. Eure Haltung als Eltern bedeutet für euer Baby die Welt! Wenn ihr bemüht seid, in Verbindung zu eurem Kind zu sein und immer wieder die Beziehung zu ihm sucht, dann stehen den wenigen „schlechten“ Erlebnissen eures Kindes eine Millionen liebevoller Begegnungen gegenüber. Menschen, auch Kinder, sind trotz allem sehr wiederstandsfähig. Also, seid bitte, bitte gnädig mit euch.