Ich hatte erzählt, dass der große Bruder sich sehr auf die kleine Schwester gefreut hat. Und ich hatte berichtet, dass wir mit dem großen Bruder eigentlich drei wunderbare Jahre ohne viel Streit und Stress hatten. Er ist ein großer Dickkopf, der seine Freiheit liebt, aber wir haben versucht, keine Machtkämpfe aufkommen zu lassen (ganz BO/AP-mäßig). Wenn wir gemerkt haben, dass er sich „gegen etwas wehrt“ (man könnte auch sagen „wenn er nicht hören wollte“), haben wir einen Schritt zurück gemacht (man könnte auch sagen „wir sind eingeknickt“) und schon entspannte sich die Lage. Wir hatten drei kooperative Jahre. („Kooperativ sein“ ist übrigens auch AP/BO-Sprache, wenn’s dich interessiert, empfehle ich hier nachzulesen.)
Wenn die Familie schwankt. Und fällt.
Also Friede, Freude, Eierkuchen und dann kam unser Schreibaby. Die ersten Monate vergingen auch noch ohne große Probleme. Also zumindest ohne Probleme mit ihm. Denn seine kleine Schwester verlangte uns von der ersten Sekunde an viel ab. Aus „viel“ wurde bald „zu viel“. Während wir versuchten den Kopf irgendwie über Wasser zu halten und zu überleben, wollten wir einfach nur, dass er „funktionierte“. Das tat er sogar noch eine ganze Weile, ungefähr drei Monate. (Unsere Ergotherapeutin sagte, wir hätten ein gutes Fundament gelegt, was mich im Nachinein ein bißchen stolz macht.) Aber irgendwann konnte er nicht mehr kooperieren, er „funktionierte“ nicht mehr. Unser Miteinander verlor sich in Streit, Machtkämpfen und Wut. Oktober, November, Dezember. Es waren sicherlich die dunkelsten Monate.
Ich gebe es zu: Während man mit seinem Kind kämpft, kommen unweigerlich diese Gedanken von „Er will nur seinen Willen durchsetzen“ und „Wenn er damit jetzt durchkommt, wird er das immer machen“ und in unserer Situation: „Das können wir jetzt überhaupt nicht gebrauchen“ und „Er muss doch sehen, dass wir völlig am Ende sind“, gefolgt von „Kann er nicht wenigstens EINMAL machen, was wir sagen“.
Am Grundsatz festhalten
Ich weiß, dass wir ganz bewusst an unseren Grundsätzen, unseren Werten, unserem Menschenbild festhalten mussten. Wenn ich eigentlich nicht daran glaube, dass Kinder kleine Tyrannen sind, die nur auf ihren Vorteil bedacht sind und mit aller Macht ihren Willen durchsetzen wollen, dann muss ich eine Deutung der Situation vornehmen, die mit meinem Menschenbild stimmig ist. Wenn ich also glaube, dass Kinder als soziale Wesen eigentlich immer auf ein „gutes Miteinander“ aus sind und ich das in meiner Situation nicht erlebe, dann muss ich fragen, was mein Kind daran hindert, so zu sein wie es eigentlich sein möchte. In unserem Fall war unser Sohn daran gewöhnt, dass seine Eltern und er eigentlich ein gutes Team sind, indem alle berücksichtigt werden. Plötzlich erlebte er aber, wie seine Meinung und seine Bedürfnisse immer weniger zählten. Die Angst davor, dass wir zwei Kinder hätten mit denen wir „nicht klar kämen“, machte uns oft hart und ungerecht. Während er keinerlei Kapazitäten für Kooperation mehr hatte, wollten wir, dass er einfach nur tut, was wir sagen. Er sollte nicht so laut sein. Er sollte sich allein beschäftigen. Er sollte still sitzen. Er sollte sich wie eine Spielfigur von A nach B stellen lassen; zu unserer Entlastung, zu unserem Vorteil.
Es ist so unendlich traurig, wenn man sein eigenes Kind nicht wieder erkennt. Nicht, weil es vielleicht eine natürliche Veränderung durchlaufen hätte, sondern weil es ihm nicht gut geht. Er war motorisch unglaublich unruhig. Nicht zu verwechseln mit Bewegungsdrang, den hatte er immer schon. Aber egal, wie viel er sich bewegte – es war wie eine innere Anspannung, die sich nach Außen entladen musste. Er hatte große Einschlafschwierigkeiten und wälzte sich abends stundenlang und todmüde Hin und Her. Die Hose war plötzlich öfters nass, manchmal mussten wir dreimal am Tag umziehen. Er ging wegen einer Kleinigkeit an die Decke oder brach wegen einer Kleinigkeit in Tränen aus.
Was für uns besonders schlimm war: Wir wussten, dass wir selbst der Grund dafür waren, dass es unserem Kind schlecht ging. Er wollte seine Eltern wieder haben. Noch schlimmer: Wir wussten, dass wir es in naher Zukunft nicht besser machen würden. Wir wussten, wir würden es nicht besser schaffen, weil wir eigentlich überhaupt nichts schafften als gerade mal so nicht wahnsinnig zu werden. Unseren schlauen, liebevollen, fröhlichen und freundlichen Jungen so wütend, traurig und „außer sich“ zu erleben, war in dieser ganzen Zeit mit am schlimmsten für uns. Es hat uns zerrissen.
Den Kopf irgendwie oben halten. Oder wenigstens ab und zu Luft holen.
Ich habe keine Ahnung, wann oder warum es dann besser wurde. Vielleicht, weil es mit der kleinen Schwester mit einem halben Jahr doch zumindest ein miniwinzigbißchen besser wurde. Oder vielleicht doch, weil unsere Bemühungen gegenzusteuern nachdem wir uns seine Situation bewusst gemacht hatten, nicht umsonst waren. Weniger Machtkämpfe, mehr Gesehen-werden. Alles, was wir noch an Kräften in uns mobilisieren konnten, sollte er bekommen, auch wenn es nicht viel war.
Es wurde besser. Sehr, sehr langsam. Und auch trotzdem noch begleitet von kraftlosen Kämpfen, wenn wir es wieder nicht schafften eine Situation einfach loszulassen. Wir sind lange nicht da, wo wir gerne hin würden. Aber auf einem guten Weg.