Neulich waren wir mit einer Freundin auf dem Spielplatz und ich weiß nicht mehr genau, was es war… ihr Sohn wollte irgendwas nicht machen, was er eigentlich schon tausend Mal gemacht hatte. Aber in dem Moment ging es nicht, er heulte und schrie und rief sie immer wieder zu Hilfe. Sie ging und half ihm und sagte liebevoll sowas wie „Was ist denn los? Bist du gerade ein Drama-Lama?“. Er hat dann gelacht. Ich glaube, das mit dem Drama-Lama ist aus einem Buch. Ich fand es jedenfalls sehr süß. Ein bezauberndes Wort.
Babies mit Regulationsstörung…
Als wir ganz am Anfang hörten, dass unsere Tochter eine Regulationsstörung hätte, fragten wir mehrmals, was das denn für die Zukunft bedeuten würde. Wir bekamen keine richtige Antwort, weil man das einfach nicht wissen könne. Ich denke außerdem, dass die Ärzte und Therapeuten die Eltern nicht verrückt machen wollen. Es macht keinen Sinn zu sagen: „Es könnte auch eine geistige Behinderung sein“, wenn diese Chance sehr gering ist und man damit nur Ängste schürt. Ich finde das theoretisch gut, aber man liest es dann halt an anderer Stelle und macht sich natürlich trotzdem Gedanken.
Als unsere Tochter dann knapp über ein halbes Jahr alt war, sagte unsere Ergotherapeutin, dass sie ziemlich sicher sei, dass mit unser Tochter dahingehend alles in Ordnung sei. Viele Babies mit Regulationsstörung im Säuglingsalter seien einfach oft sogenannte „gefühlsstarke“ Kinder. Das Wort hatte ich schon mal gehört, irgendwo im Dunstkreis der bindungsorientierten Erziehung. Aber ich hatte mich noch nicht weiter damit beschäftigt.
…sind häufig Gefühlsstarke Kinder.
Die Begrifflichkeit der „Gefühlsstarken Kinder“ hat die Journalistin und Autorin Nora Imlau geprägt. Sie ist eine der bekanntesten Vertreterinnen der Bedürfnisorientierten Erziehung (oder Attachment Parenting). Sie hat vier Kinder; eins davon bezeichnet sie als gefühlsstark: Gefühle und Emotionen gibt es nur in der Over-the-Top-Variante; sowohl positive als auch negative. Kein Mittelmaß, kein Dazwischen. Mit ihrem Temperament würden diese Kinder ihre Eltern vor große Herausforderungen stellen. Nora Imlau recherchierte zum Thema und schrieb das Buch „So viel Freude, so viel Wut“. Sie sagt, diese Kinder gäbe es schon immer. Sie würden nur eben Rotzlöffel, Heulsusen, Zicken oder Terrorzwerge genannt. Sie wollte einen positiven Begriff für diese Charaktereigenschaft finden. Auch sie spricht von Offenheit gegenüber Reizen und Schwierigkeiten bei der Gefühlsregulation. Gefühlsstarke Kinder werden häufig von ihren Gefühlen übermannt und können in diesen Situationen keinen klaren Gedanken fassen – sie brechen wegen scheinbarer Lappalien zusammen. Ich meine, ich hätte auch irgendwo von ihr gelesen: „Mein Kind macht kein Drama. Es erlebt ein Drama.“ Nora Imlau ist es nämlich wichtig, dass den Kindern vermittelt wird, dass ihre Gefühle in Ordnung sind und nicht unterdrückt gehören. Dass die Emotionen nicht klein geredet oder weggewischt werden – auch wenn sie den Erwachsenen nichtig vorkommen. So sollen die Kinder mit der Zeit und guter Begleitung gute Strategien finden um mit ihren überrauschenden Gefühlen klarzukommen. (In diesem Interview mit Nora Imlau könnt ihr noch mehr darüber lesen.)
Gefühlsstärke bei uns?
Ob unsere Tochter nun gefühlsstark nach Nora Imlaus ist? Ich glaube schon. Ich weiß nur noch nicht, wie ausgeprägt. Vor allem, wenn ich an ihren großen Bruder denke, sind da deutliche Unterschiede bei der Stärke der Emotionen. Manchmal gucken mein Mann und ich uns an und denken „Hui. Das kann ja heiter werden.“ Wir wollen ja nicht sagen, dass sie eine Drama-Queen ist (nur manchmal vielleicht denken, so ganz heimlich). Vermutlich ist Drama-Lama auch nicht ganz pädagogisch korrekt, aber ich finde es ist trotzdem ein schönes Wort, das zumindest in meinen Ohren auch nicht abwertend klingt.
Sie ist noch sooo klein, unser Baby. Aber sie kann so wütend werden. Wir können es oft nicht glauben. Sie ist das Kind, das einen Tobsuchtsanfall bekommt, weil sie den Hocker, den sie gerade durch den Raum geschoben hat, nicht auch durch die Wand schieben kann (WARUM LÄSST SICH DER HOCKER NICHT DURCH DIE WAND SCHIEBEN?!?!?? ICH HABE GEFRAGT, WARUM ICH DEN MISTHOCKER NICHT DURCH DIE WAND SCHIEBEN KANN!!? ICH WERD HIER ALLES ZUSAMMENBRÜLLEN BIS ICH DIESEN HOCKER DURCH DIE WAND GESCHOBEN HABE!). Sie ist das Kind, das mit dem Kopf beim Spielen leicht die Tischplatte streift und das so interessant findet, dass sie ihren Kopf noch zwei Mal mit voller Wucht dagegen haut; einmal um festzustellen, dass es wehtut und einmal aus Wut darüber, dass es wehtut. Die Lernkurve ist dabei leider recht – nun ja – flach. Sie wird es übermorgen nämlich nochmal so machen. Sie ist das Kind, dass lautstark kräht, weil ein Spielzeug 30cm von ihr weggerollt ist und sie es plötzlich offenbar beim besten Willen nicht dorthin schafft. Obwohl sie ansonsten den 15m langen Flur in einer affenartigen Geschwindigkeit im Army-Style langrobben kann. Sie ist das Kind, das nicht locker lässt und probiert und probiert und probiert – bis sie es schafft oder vor Wut zusammenbricht. Sie ist das Kind, das sich steif wie ein Brett macht und du es einfach nicht in den Kindersitz bekommst, wenn sie gerade aufgebracht ist. Sie ist das Kind, das, wenn es in der richtigen Stimmung ist, in Tränen ausbricht, wenn Jemand (und zwar irgendjemand; egal, wer) das Zimmer verlässt. Sie ist das Kind, das die Stimmung bei anderen Menschen in seiner Umgebung „mitfühlt“ und diese aufnimmt; sie ist quasi ein Gefühlsdetektor. Wir brauchen nicht zu versuchen, sie zu beruhigen, wenn wir selbst auch nur einen Hauch ungeduldig sind. Sie ist das Kind, das jauchzend den Schuh vom Bruder aus der Garderobe klaut und dann damit lautstark triumphierend durch den Flur robbt. Sie ist auch das Kind, das über eine Kleinigkeit einen Lachanfall kriegen kann. Sie ist das Kind, das dir die Ohren vollsabbelt in einer bezaubernden Sprache, die nur sie versteht. Sie ist das Kind, das fremde Menschen in Begeisterung ausbrechen lässt, nur wenn sie an ihr vorbeigehen. Sie ist das Kind, über das Viele sagen, dass sie mit ihren riesigen Augen schaut als würde sie die Welt bereits besser verstehen als der Rest von uns.
Es bleibt ein Abenteuer. Und wir sind gespannt, wie es wohl weitergehen wird. Besonders der Kita-Start bereitet uns ein wenig Sorgen.