Kindererziehung: Warum dein Bauchgefühl auch einfach nur Blähungen sein könnten

Der erste Teil einer kleinen Reihe über die sogenannte Bedürfnisorientierte Erziehung. Oder Bindungsorientierte oder Beziehungsorientierte Erziehung. Abgekürzt BO. Gerne wird auch der englische Name „Attachment Parenting“ (oder auch „AP“) verwendet. Teil 1: Prägung und Bauchgefühl. Teil 2: Warum beziehungsorientiert? Teil 3: Warum unsere Kinder nicht hören müssen.

Übrigens: Nora Imlaus „Der Familienkompass“ beschäftigt sich mit all diesen Themen. Sie erklärt es noch hundert Mal besser, und dazu wissenschaftlich fundiert. Ich hab das Buch erst später gelesen, sonst hätte ich einfach eine Buchzusammenfassung geschrieben. Da sie das hier wohl nie lesen wird, kann ich ja peinlich Fangirl-mäßig sagen: Lest ihr Buch. Oder alle ihre Bücher. Sie ist echt ne coole Socke. Und super klug 🙂

Für Kindererziehung braucht es einfach gesunden Menschenverstand und ein bisschen Bauchgefühl. Da braucht man keine tausend Ratgeber. So hab ich gedacht. Dann hab ich nachgedacht. Denn ich bin ja ein kleiner Systematik-Freak. Es muss „zusammenpassen“, auch meine Überzeugungen müssen zusammenpassen. Aber da passte was nicht.

Mutter: Neugeboren bei der Geburt?

Wer mich ein bisschen kennt, der weiß, dass ich überhaupt kein Fan davon bin, die Mutterrolle zu romantisieren oder schlimmer noch, zu glorifizieren. Ich weiß, es gibt anscheinend viele Frauen (sind es wirklich so viele oder wird das nur so erzählt?), die mit der Geburt dieses magische Gefühl überkommt. Die davon sprechen, dass sie nun vollständig seien. Ein neuer Mensch. Die davon sprechen, dass sie vorher gar nicht wussten, was Liebe sei. Manche sagen, sie hätten ihre Bestimmung gefunden. Puuh. Das ist so gar nicht meins. Nicht falsch verstehen. Ich habe wirklich nichts dagegen, wenn Jemand so empfindet. Voll in Ordnung, ist doch schön. Ich hab halt was dagegen, wenn das die Norm sein soll. Wenn es uns Frauen (und Menschen) als „das Natürliche“ verkauft wird. Daraus wird nämlich schnell geschlussfolgert, dass, wenn es nicht so ist, etwas Wichtiges fehlt.

„[…] aber die Schockverliebtheit, die einen trifft, wenn man sein Baby das erste Mal sieht, übertrifft jede Verliebtheit die man sonst erlebt.“

10 Dinge, die sich durch das erste Kind verändern (Focus online)

Das hat mich nach der Geburt unseres ersten Kindes in eine tiefe Krise gestürzt, die völlig unnötig war. Wenn du dir neun Monate anhörst „Warte mal bis das Kind da ist, dann wirst du dieses-und-jenes fühlen und tun…“, und dann bekommst du das Baby und es fühlt sich nicht besonders anders an. Natürlich liebte ich unser Baby. Aber schlafen war schon auch cool. Dazu dann achterbahnfahrende Wochenbett-Hormone und zack, denkste, dass mit dir was falsch sein muss. Ich hab mich gefreut, wenn meine Freundin auf’n Kaffee vorbei gekommen ist, denn nein, ich hatte kein Bedürfnis mein Baby 24/7 verzückt anzuglotzen („Du wirst sehen, dass du deine Ruhe haben willst um dein Baby kennenzulernen!“). Ich hatte auch kein Problem damit, unser Baby auf den Arm unserer Freunde zu geben und es erst eine halbe bis Stunde später wiederzusehen („Du wirst schon sehen, du wirst das Baby nicht aus der Hand geben können!“). Ich habe also gedacht, dass ich eine furchtbare Mutter sein muss, weil ich mich nicht „anders“ gefühlt hab. Weil ich mich gefühlt hab, wie ich. Nur jetzt halt mit Baby. Ich muss ziemlich abgedreht gewesen sein damals. Nach der Geburt unseres zweiten Kindes sahen mich einige Lieblingsmenschen beim ersten Babybesuch besorgt an und rückten dann raus mit: „Ich bin ja froh, dass es dir gut geht. Damals warst du sooo fertig. Du hast fast die ganze Zeit durchgeheult.“ Beim zweiten Kind wusste ich ja schon, dass ich mich vorraussichtlich nicht besonders anders fühlen würde. Wie ich. Ich mit dann zwei Kids. Sorry, no magic.

Hör mir auf mit „Mutterinstinkt“

Von dem, was von einer frischgebackenen Mutter erwartet wird, sind wir auch schnell beim berühmten Mutterinstinkt. Also der Annahme, dass eine Mutter eben weiß, was ihr Kind braucht. Automatisch. Btw, wenn du ein waschechtes Schreibaby hast, dann kannste deinen Mutterinstinkt aber mal schön in der Pfeife rauchen! Da hast du keinen verdammten Schimmer, was dein Baby braucht. Nee, im Ernst, auch ohne Schreibaby finde ich das Prinzip Mutterinstinkt bescheuert. Wo soll dieser exklusive Instinkt denn herkommen? Und wann genau bekommt man ihn? Rauscht der vom Allerheiligsten auf dich herab, während du das Kind fluchend aus dir rauspresst? Da der Vater leer auszugehen scheint (zumindest redet Niemand vom berühmten Vaterinstinkt), muss es doch was mit der Geburt zu tun haben?! Mmhm, Adoptiv- und Pflegeeltern würden dann natürlich auch leer ausgehen, geschweige denn eine Zwei-Väter-Familie, die sind dann richtig gelackmeiert. Wie ich’s dreh‘ und wende. Für mich passt das alles nicht zusammen.

Was ich durchaus glaube, ist, dass es Menschen gibt, die besonders gut mit Menschen umgehen können. Das ist eine Gabe, so wie jeder Mensch nun mal Talente hat. Ich glaube, dass diese Menschen besonders sensibel sind, sich vielleicht besonders gut einfühlen können und ich glaube, dass es ihnen auch dabei hilft, mit einem Mini-Menschen umzugehen. Diese Gabe, dieses Talent, sehe ich nicht an ein Geschlecht oder den Vorgang der Geburt oder sonste was gebunden.

Für den Rest der Eltern-Menschheit heißt das schlicht: Übung und gaaanz viel Gewohnheit. Klar, wer kleine Geschwister hat, kann mit einem Baby sicher routinierter umgehen, als Jemand, der kein Baby im nahen Umfeld hat. Na, und wenn schon. Das hat nichts mit Instinkt zu tun… es ist kein Hexenwerk. Nichts Magisches. (NATÜRLICH hat das Elternsein zwischen Pippi und Kacka auch magische Seiten. Strahlkraft und Glitzer und Heiligkeit in reinster Form. Aber ihr wisst hoffentlich, was ich hier in diesem Zusammenhang meine.) Es ist kein Gen, das schon immer da war und ganz plötzlich aktiviert wird und in dein Hirn eine heilige Baby-Gebrauchsanweisung downloaded. Nope. Ich mein, es hat nicht lang gedauert bis das Windeln wechseln auch im Halbschlaf geklappt hat, oder?

„Bauchgefühl“ ist auch nur der Nachfolger von „Mutterinstinkt“

Ich gebe es zu. Obwohl sich mir beim Mutterinstinkt die Nackenhaare hochstellen, bin ich nicht grundsätzlich auf die Idee gekommen, mich über den Umgang mit Kind zu informieren. Ich hab auch zur Fraktion gehört: „Diese tausend Ratgeber braucht doch kein Mensch. Es braucht nur gesunden Menschenverstand und a little bit of Bauchgefühl“. Obwohl ich also vom Mutterinstinkt nichts hören will, dachte ich, dass der Umgang mit Kindern mit „ein bisschen Bauchgefühl“ zu machen ist. Pah, „Bauchgefühl“ ist auch nur der Nachfolger von „Mutterinstinkt“…wenn ich das Eine ablehne, kann ich eigentlich nicht das Andere befürworten. Das passte nicht zusammen.

„Intuitionen […] repräsentieren Daten, die für die Aufnahme ins Bewusstsein zu schnell verarbeitet wurden.“

Sherlock Holmes (Staffel 4, Folge 1: Die sechs Thatchers)

Das Problem ist, wie beim Mutterinstinkt, dass gesunder Menschenverstand und das berühmte Bauchgefühl nicht einfach so „da“ sind. Es sind Dinge, die wir im Laufe der Zeit gelernt, erfahren, verinnerlicht haben. Vieles sicherlich unbewusst, aber eben trotzdem nicht im luftleeren Raum gebildet. Sie sind durch Prägung entstanden. Das über Jahrzehnte vermittelte Menschenkinderbild war und ist: Ein Kind ist in erster Linie auf seinen eigenen Vorteil bedacht. Es will seinen egoistischen Willen durchsetzen – koste es, was es wolle. Damit ist auch gleich die Aufgabe der Eltern klar: Den Egoismus eindämmen und dem Kind Sozialkompetenz und Gemeinsinn einbleuen… pardon, beizubringen. Dass das unsere Prägung ist, machen wir uns oft nicht bewusst. Ich glaube, ich kenne zwar keine Eltern, die den Satz „Kinder sind von Natur aus erstmal egoistisch“ so unterschreiben würden. Trotzdem handeln wir oft so als würden wir genau davon ausgehen. Sätze wie „Da darf man nicht nachgeben. Das muss man konsequent durchziehen.“ oder „Da ist jemand trotzig und will seine Grenzen testen.“ sind so tief in uns verankert, dass wir nicht auf die Idee kommen, sie in Frage zu stellen. Sie erscheinen uns logisch, denn die Erklärungen dazu sind eben nachvollziehbar. Obwohl wir doch eigentlich nicht glauben, dass Kinder von Natur aus kleine Ego-Schweine sind. Das passt also nicht zusammen. Die Art, wie wir mit unseren Kindern umgehen, wird damit oft mehr von der Vergangenheit beeinflusst und der Gegenwart bestätigt als wir ahnen.

Auf dieser Basis funktioniert unser berühmtes „Bauchgefühl“ in Sachen Kindererziehung. Also. Vielleicht sind es doch nur fette Blähungen. Weil da was völlig quer sitzt. Und zwar im wahrsten Sinne des Wortes. Unser Bild von Kindern ist ganz schön verquer. Wenn wir aber ein anderes Bild hätten, z.B. „Kinder wollen grundsätzlich Gutes“, dann müssten wir unbedingt schauen, ob unser Verhalten gegenüber Kindern auch mit diesem Bild zusammen passt.

Eltern als lernbereiter Teil einer Beziehung

Wir landen eben doch immer und immer wieder in Machtkämpfen mit unseren Kindern. Wir wollen sie unbedingt daran hindern diesen scheinbar egoistischen Willen durchzusetzen. Auf keinen Fall nachgeben, wenn sie „Grenzen testen“, damit nicht der gefürchtete Tyrann aus ihnen wird. Dafür heiligt uns der Zweck die Mittel. Wir drohen, wir erpressen, wir fordern, wir zwingen. Wir nutzen unsere Überlegenheit. Wir nutzen unseren Machtstatus. Aber Macht ist der Feind jeder Beziehung.

„Wenn du wissen willst, wie ein Mensch ist, dann sieh dir genau an wie er seine Untergebenen behandelt, nicht die Gleichrangigen.”

Sirius Black (Harry Potter und der Feuerkelch)

Menschen zeigen im Umgang mit Schwächeren viel von sich. Durch unseren Umgang mit Kindern können wir sehr viel über uns selbst lernen. Manchmal mehr als uns lieb ist. Wenn wir dieses Machtgefälle nicht mehr ausnutzen wollen, sondern unseren Kindern auf Augenhöhe begegnen wollen, dann ist das vermutlich ein anstrengender Weg. Je krasser die Prägung, desto anstrengender vermutlich. Und am Anfang ist es irgendwie sehr theoretisch. Man muss den Dingen auf den Grund gehen. Immer und immer wieder. Sich selbst auf den Grund gehen: Warum will ich das jetzt? Was passiert, wenn es nicht so läuft wie ich mir das vorstelle? Warum nimmt mich so eine Kleinigkeit so mit? Was ist denn eigentlich mein Menschenkinderbild? Dem Verhalten meines Kindes auf den Grund gehen: Warum handelt es so? Was steckt „dahinter“? …Jaja, die ganze Psycho-Nummer á la „Und was macht das mit dir?“… Aber um von so tief in uns verankerten vermeintlichen „Wahrheiten“ nachhaltig wegzukommen, braucht es immer wieder unseren Verstand, der uns erinnert und uns „in der Spur hält“. Aus Erfahrung kann ich sagen, es wird besser und es wird leichter. Das Reflektieren geschieht immer mehr automatisch. Die Theorie füllt sich mit Leben. Der eigene Kompass wird quasi neu genordet.

Es bleibt ein Lernprozess. Der Ansatz heißt Beziehungsorientierte Erziehung (und hat noch viele andere Namen). Es bleibt Arbeit. Denn Beziehung ist Arbeit. Das ist eigentlich nicht neu. Wenn Jemand sagt: „Eine Ehe ist lebenslange Arbeit.“, dann nicken alle. Im Kontext von Kindererziehung hört man das eher selten. Aber wir verändern uns, wachsen aneinander, lernen voneinander. Kinder haben den unbefangenen Entdeckergeist in sich, Neugierde, die lernen quasi automatisch und können gar nicht anders. Wir Erwachsene haben da mehr Schwierigkeiten, denke ich. Wir müssen uns dafür entscheiden und uns bewusst darauf einlassen. Der Lernprozess in diesem Miteinander ist für uns alle da. Für Erwachsene und Kinder.