Ich möchte gerne auch anderen Eltern eine Stimme geben. Ich habe diesen Bericht in einer Social Media Gruppe gelesen und ich könnte jedes Mal heulen, wenn ich ihn lese. Natürlich weil eigene Erinnerungen hoch kommen. Aber vor allem bin ich so wütend darüber, dass es so unfassbar lange gebraucht hat bis diese Familie Hilfe bekommen hat. So viel Leid hätte einfach nicht sein müssen, wenn früher Jemand genauer hingeschaut hätte. Ich freue mich, dass ich diesen Bericht einer starken Mama hier anonym veröffentlichen darf und hoffe, dass er einmal mehr Sichtbarkeit und Mitgefühl für Schreibaby-Familien schafft. Und natürlich anderen Eltern in ähnlichen Situationen Mut macht!
Am Anfang war der Traum
Ich kann mit Fug und Recht behaupten, dass die ersten Jahre mit unserer Tochter uns sehr ausgelaugt haben. Wir hatten – mit vielen wunderbaren, schönen, liebenden, erfüllten, lustigen, glücklichen Ausnahmemomenten – eine schlimme Zeit. Manchmal fühlte es sich an wie Folter. Ich habe in der Zeit viele graue Haare bekommen und Stressfalten. Vorgestellt hatte ich es mir immer anders: Ich, die ich eine so enge und liebevolle Beziehung zu meiner Mutter hatte, habe von der puren Harmonie mit meiner eigenen kleinen Tochter geträumt. Das jähe Erwachen kam kurz nach der Geburt mit einem Schreibaby und das Leiden zog sich über Jahre bis zu einem Schrei-Kleinkind.
Schreibaby-Zeit
Als Baby schrie sie und wimmerte nicht wie manch anderes Baby, sondern wie am Spieß, stundenlang, weil sie überreizt war und nicht schlafen konnte. Weil das Stillen nicht klappte, obwohl ich sie mit schmerzverzerrtem Gesicht an meine blutenden Brustwarzen legte. Weil sie nicht abgelegt werden wollte. Weil sie nicht still auf dem Arm gehalten, sondern getragen werden wollte, um die Welt zu sehen. Weil sie aber auch das Tragetuch nur anbrüllte, da eine (wie sich erst mit einem Jahr rausstellen sollte) Halswirbelblockade ihr Schmerzen bereitete. Später schrie sie, weil sie sich nicht fortbewegen konnte. Die Blockade machte es ihr unmöglich, vorwärts zu robben, geschweige denn zu krabbeln. Irgendwann stellte ich sie auf die Füßchen und sie strahlte wie ein Honigkuchenpferd. Ich musste den ganzen Tag mit ihr durch die Wohnung laufen. Sobald ich sie absetzen wollte, schrie sie wie am Spieß. Die Ärzte und auch ein Osteopath wiegelten ab: Es komme schon mal vor, dass ein Kind nicht krabbelte.
Laufen ohne Halt
Aber ich war am Ende. Traumatisiert vom ewigen Schreien. Und eingeschüchtert von den anderen Kindern in meinem Umfeld, die von alleine einschliefen, sich alleine beschäftigten und sich alleine durch die Wohnung bewegten. Bei Müttertreffs oder in der Krabbelgruppe unterhielten sich alle entspannt, während ich die ganze Zeit mit meinem Kind durch die Gegend lief, es stabilisierte, um dorthin zu kommen, wo es hinwollte. Ich konnte an keinem Gespräch teilnehmen, fühlte mich wie die reinste Helikoptermutter, unverstanden, einsam. Ich war keine Erwachsene mehr, sondern eine Geh-Hilfe. Wenn wir Gäste hatten, wenn wir irgendwo zu Besuch waren, saßen alle am Tisch und unterhielten sich, nur ich steuerte als verlängerter Arm meiner Tochter durch die Wohnung. Die verständnislosen Blicke der Anderen im Nacken. Mein Mann unterstützte mich, wo er konnte, aber oft wurde nur Mama akzeptiert. Schließlich war ich wie ein Teil von ihr. Als sie mit einem Jahr frei lief, sich aber immer noch weder selbst hinsetzen noch aufstehen konnte und beim Stolpern wie ein Brett rückwärts umfiel, lief ich immer noch hinter ihr her, um sie auffangen zu können. Nach einem Sturz auf die Küchenfliesen bestätigte mir auch die Ärztin, dass sie sich dabei einen Schädelbasisbruch hätte zuziehen können. Wir setzten ihr zusätzlich einen Schaumstoffhelm auf. Trotzdem war ich in ständiger Alarmbereitschaft. Und langsam am Ende meiner Kräfte. Durch eigene Recherchen stieß ich auf einen Spezialisten für das KISS-Syndrom, der letztendlich unsere Rettung war. Ein Handgriff und noch am selben Tag stützte sich unsere Tochter zum ersten Mal in Bauchlage auf die Hände statt wie bisher nur auf die Unterarme. Ein paar Wochen später konnte sie sich erst alleine aufsetzen, irgendwann alleine aufstehen und ich weiß nicht mehr, wie lange es gedauert hat, bis ich kein Herzklopfen mehr hatte aus Angst, sie könnte sich beim nächsten Stolpern den Schädel einschlagen. Ein Trauma für alle Beteiligten.
Immer das Gefühl der Unfähigkeit
Das Resultat war ein Schrei-Kleinkind. Als mit ca. 2 Jahren die Autonomiephase kam, hörte sie gefühlt nicht mehr auf zu schreien. Es ging morgens los: Sie wollte nicht die Windel wechseln, nichts anziehen, nichts ausziehen, sie trug mehrere Tage hintereinander dieselbe Kleidung und schlief teilweise auch darin, weil ich ihr Geschrei einfach nicht mehr ertragen konnte. Sie wollte nicht Zähne putzen, nicht das Haus verlassen, nicht ins Haus wieder reingehen, nach dem Mittagsschlaf wachte sie brüllend auf, auch wenn sie im Auto eingeschlafen war. Mehrmals am Tag bekam sie aus dem Nichts heraus Kreischanfälle, die bis zu 30 Minuten dauerten. Ich fühlte mich in meiner eigenen Wohnung nicht mehr sicher. Ich fühlte mich unfähig, sie zu beruhigen, machtlos bei jedem neuen Anfall, ihrem Gebrüll völlig ausgeliefert, fühlte mich schuldig und als die unfähigste Mutter aller Zeiten. Eine Freundin sagte einmal: „Du bist so angespannt.“ Ich nahm das als Vorwurf, als Bestätigung, dass ich selbst daran schuld war, dass mein Kind so viel schrie und alles verweigerte. Wenn sie schrie, hörte ich nur maßlose Wut. Ich interpretierte das als Wut auf mich. Auf diese unfähige Mutter.
Mehrere Freundinnen planten ein Fotoshooting mit unseren Töchtern, alle im gleichen Kleid. Ich bekam Schweißausbrüche. Wie sollte ich das Kind in dieses Kleid bringen und gleichzeitig dazu, für das Fotoshooting dort zu bleiben, wo die anderen Kinder waren? Und gleichzeitig wollte ich doch so gerne mitmachen, zu den anderen Müttern dazugehören, „normal“ sein mit einem „normalen“ Kind.
Man verabredete sich auf dem Spielplatz – ich bekam Schweißausbrüche, weil ich wusste, die anderen würden auf der Picknickdecke sitzen, während ich mit meinem Kind rutschte, weil es sich alleine nicht traute. Ich würde mich ausgegrenzt fühlen und mein Kind würde durch Schreien auch allen anderen beweisen, dass ich als Mutter völlig ungeeignet bin.
Es wurde zum Familienfest eingeladen – ich bekam Schweißausbrüche. Vor den Augen der ganzen Familie als Versagerin dastehen… Mein Leben war eine Geisterbahnfahrt. Ich liebte mein Kind. Aber ich hatte Angst vor ihm. Bei einer Familientherapeutin spielte unsere Tochter 5 Sitzungen lang im Zimmersandkasten und brabbelte dabei absichtlich unverständliches Zeug. Die Therapeutin sagte, sie sehe autistische Züge, weil das Sand-Spiel keine erkennbare Bedeutung habe. Ich brach die Therapie ab, weil ich irgendwann keinen Sinn mehr darin sah, gemeinsam mit der Therapeutin meiner Tochter beim Spielen zuzusehen.
Ein gefühlsstarkes Kind
Dann entdeckte mein Mann eine Vortragsankündigung zum Buch von „So viel Freude, so viel Wut“ von Nora Imlau. (Dieses Buch handelt vom Leben mit besonderen Kindern, sogenannten „gefühlsstarken“ Kindern.) Als ich Nora hörte, hätte ich heulen können. Ich fand unsere Tochter in so vielem wieder, was sie beschrieb. Und ich fand eine erste Bestätigung darin, dass der liebevolle, bindungsorientierte Ansatz trotz oder gerade wegen allem, doch der einzig richtige ist. Ratschläge über konsequente Erziehung und härteres Durchgreifen hatte ich zur Genüge erhalten. Alle Versuche in diese Richtung hatten zu noch mehr Geschrei geführt. Dank Nora schaffte ich es, in dem Schreien meiner Tochter weniger einen Vorwurf an mich als einen Ausdruck ihrer Gefühlsstärke zu sehen, und überschüttete meine Tochter in allen einigermaßen entspannten Momente mit Liebe. Es wurde etwas ruhiger und sie brüllte nicht mehr bei allem „Nein!“, das ihr abverlangt wurde. Trotzdem beschrieb ich unsere Tochter, wenn mich jemand nach ihr fragte, zuallererst immer als schwieriges Kind. Das tat mir gleichzeitig total weh. Sie hatte so viele wunderbare Seiten, war so intelligent, gewitzt, humorvoll, aufmerksam und interessiert, so hübsch, verschmust, sprachbegabt und fantasievoll.
Und trotzdem war das vorherrschende Gefühl: Sie ist schwierig. Die Eingewöhnung in die Krippe: ein dreimonatiger Kampf. Eine Mutter meinte, ihr Kind würde in dieser Intensität und Lautstärke nur brüllen, wenn es sich einen Finger abgerissen hätte. Betreuung durch die Großeltern: jedes Mal ein erbärmliches Brüllen beim Abschied. Selbst Betreuung durch Papa, wenn ich das Haus verließ: nur unter Tränen möglich. Wenn mein Mann sie ins Bett brachte, der wirklich liebevoll und unendlich bemüht ist, klang es manchmal, als würde er ihr bei lebendigem Leib ein Bein amputieren. Ich saß im Wohnzimmer und mir klopfte das Herz bis zum Hals. Gleichzeitig war ich verzweifelt, weil ich mir immer mehrere Kinder gewünscht hatte, aber nun schon am ersten oft so verzweifelte.
endlich verstanden werden…
Als unsere Tochter drei Jahre wurde, bekam ich vom Kinderzentrum (Fachklinik für Sozialpädiatrie) endlich den Kontakt zu einer wunderbaren Kinder-Psychotherapeutin, die unser Leben verändern sollte. Sie schaffte es, mich davon zu überzeugen, dass ich keine schlechte Mutter bin. Dass alle Eltern mit Schreibaby und ohne ausgiebige familiäre oder psychotherapeutische Unterstützung ein Trauma erleiden. Dass wir Eltern und das Kind durch die Schreibabyzeit und die anschließende Halswirbelsäulen-Problematik auch ein Trauma erlitten haben. Dass meine Tochter meistens nicht primär aus Wut schreit, sondern oft aus Verzweiflung, Überforderung oder Angst. Dass ich sie nicht beruhigen muss. Dass ich nicht mal herausfinden oder verstehen muss, warum sie schreit. Dass ich das Schreien auch nicht stoppen muss. Dass ich nur lernen muss, davor keine Angst mehr zu haben. Weil es nichts über meine angebliche Unfähigkeit als Mutter aussagt, sondern nur etwas über das Kind. Dass meine Angst verständlich ist. Dass JEDER so am Ende mit den Nerven wäre, wenn er dasselbe mit seinem Kind durchgemacht hätte. Dass es kein Beweis dafür ist, dass ich weniger belastbar wäre als andere Eltern, zu sensibel, zu zart besaitet, ein Weichei, inkonsequent und unfähig. Dass mein Bemühen um mein Kind zeigt, was für eine großartige und liebende Mutter ich bin. Dass ich aber jetzt aufhören kann, mein Kind aktiv beruhigen zu wollen. Dass mein Kind nicht beruhigt werden will, sondern nur gesehen. In seinem Schmerz gesehen und akzeptiert. Und nicht gefürchtet. Dass es besser werden wird.
…und Endlich wird es besser
Und was soll ich sagen. Es wurde besser. Woche für Woche verwandelte sich unser Teufelskreis in einen Engelskreis. Je mehr meine Selbstvorwürfe und meine Unsicherheit schwanden, je mehr ich lernte, mein Kind zu sehen, ohne seine Gefühle auf mich umzudeuten, umso entspannter wurde unser Leben. Sie hörte auf, sich bei allem zu verweigern. Ihre plötzlichen Schreiattacken wurden weniger. Sie schrie weniger laut. Und wenn sie schrie, gefror mir nicht mehr das Blut in den Adern, weil ich nicht mehr den Druck hatte, etwas tun oder leisten zu müssen. Und je mehr ich das verinnerlicht hatte, umso schneller entspannte sie sich, verging der Schmerz. Es ging nicht darum, aktiv ihr Gefühl zu spiegeln, das ging bei uns meistens ehr nach hinten los. Ein verständnisvolles „Oh“ und die körperlich signalisierte Bereitschaft, für sie da zu sein, wenn sie mich braucht, reichten schon aus. Irgendwann half es uns auch, ihr Leiden wahrzunehmen und ihr das zu signalisieren, uns aber dadurch nicht unterbrechen zu lassen bei den Dingen, die wir gerade taten. Das nahm für sie das Gewicht von ihrem Problem. Die Welt stand nicht mehr plötzlich still, wenn sie schrie.
Ein Weg von fünfeinhalb Jahren liegt hinter uns und es gilt bestimmt immer noch viel zu lernen und wir haben auch noch jede Menge Baustellen aufzuarbeiten. Außerdem umgehen wir noch einige Hürden, ziehen sie morgens vor dem Fernseher an, gehen noch mit aufs Klo, vermeiden Drucksituationen, weil sie damit sehr schlecht umgehen kann. Da gibt es durchaus noch Luft nach oben. Aber ich kann euch sagen, zurzeit habe ich ein Familienleben, wie ich es mir immer so naiv vorgestellt hatte: Ein Kind, das als Einzelkind und aufgrund seines Alters selbstverständlich viel Aufmerksamkeit fordert und mitunter auch Kraft kostet, das aber nicht mehr hauptsächlich schwierig ist, sondern… wunderbar. Das kaum mehr Schreianfälle hat. Das oft großartig und kreativ ganz alleine spielt. Das toleriert, wenn der kleine Cousin mit ihrem Spielzeug spielt. Das mir beim Tischdecken hilft, mir zum Muttertag einen Gänseblümchen-Strauß pflückt und ein Bild malt. Das gerne in den Kindergarten geht und nicht auf dem Weg dorthin das Dorf zusammenbrüllt. Das mich beim Abholen nicht anschreit und tritt, sondern meinen Arm an sich drückt und mir die Hand küsst. Das sich ganz von alleine entschuldigt, wenn es etwas getan hat, was es nicht soll. Das empathisch ist und sich in uns einfühlen kann. Das sich manchmal durch Vernunft-Argumente überzeugen lässt und das jetzt auch Wörter wie „Na gut“ und „Okay“ in seinem Wortschatz hat. Das entdeckt hat, dass auch Papa ein ganz toller „Kumpel“ sein kann (so nennt sie ihn manchmal) und das ihm Liebesbriefchen malt und Gummibärchen für ihn darin einpackt. Das abends ganz alleine meistens nach zehn Minuten in seinem Bett einschläft und oft auch durchschläft. Das nach einer sehr mäkeligen Phase beim Essen inzwischen relativ unkompliziert isst. Das sofort hört, wenn man es ruft, Stopp sagt oder es vor einer Gefahr warnt. Das bei den meisten Dingen fragt, bevor es etwas tut, das höflich Bitte und Danke sagt, das uns täglich mehrere Liebeserklärungen macht und mir das Gefühl gibt, eine gute Mutter zu sein. Wobei ich jetzt gelernt habe, dass das nicht ihre Aufgabe ist und auch nicht sein soll.
An andere (Schreibaby-)Eltern
Eine gute Mutter war ich schon die ganze Zeit. Aber es war ein harter Weg, bis ich es auch verstanden habe. Ich wünsche euch allen, dass ihr an dunklen Tagen nicht aufgebt und darauf vertrauen könnt, dass ihr die allerbesten Eltern für euer Kind seid. Dass bessere Tage kommen werden. Und dass es notfalls Hilfe da draußen gibt, um schneller diese besseren Tage zu erleben.
–Von einer Mutter, die zum Schutz ihrer Tochter anonym bleiben möchte.