Warum Beziehungsorientierte Erziehung?

Der zweite Teil einer kleinen Reihe über die sogenannte Bedürfnisorientierte Erziehung. Oder Bindungsorientierte oder Beziehungsorientierte Erziehung. Abgekürzt BO. Gerne wird auch der englische Name „Attachment Parenting“ (oder auch „AP“) verwendet. Teil 1: Prägung und Bauchgefühl. Teil 2: Warum beziehungsorientiert? Teil 3: Warum unsere Kinder nicht hören müssen.

Übrigens: Nora Imlaus „Der Familienkompass“ beschäftigt sich mit all diesen Themen. Sie erklärt es noch hundert Mal besser, und dazu wissenschaftlich fundiert. Ich hab das Buch erst später gelesen, sonst hätte ich einfach eine Buchzusammenfassung geschrieben. Da sie das hier wohl nie lesen wird, kann ich ja peinlich Fangirl-mäßig sagen: Lest ihr Buch. Oder alle ihre Bücher. Sie ist echt ne coole Socke. Und super klug 🙂

Unser Einstieg

Ich hab hier schon mal kurz erzählt, wie ich in einem kleinen Panik-Anfall einen Erziehungsratgeber gekauft habe. Ich hatte ab und an bei Freunden manchen Ratgeber durchgeblättert, aber da haute mich nichts vom Hocker. Es waren die typischen Tipps. Etwas anderes erwartete ich mir von meinem ersten gekauften Ratgeber dann auch nicht so recht. Aber ohne Absicht sind wir mit diesem Buch in den Kosmos der Beziehungsorientierten Erziehung geworfen worden. Auf Grund des Zeitmangels habe ich noch gar keine anderen Bücher gelesen, höchstens mal Artikel im Internet. Aber mich hat einfach schon der Grundgedanke (zumindest so wie ich ihn interpretiere) total mitgerissen. Ich wusste: Das ist das, was wir wollen. Jetzt hat es halt einen Namen.

Viel mehr als Erziehung

Was mir an dieser „Art“ der Erziehung so gut gefällt, ist, dass, wenn man es so auslegt wie ich, es sich eher um eine Art Lebensstil, ein Menschenbild, eine Idee von Zusammenleben handelt. Dieses Menschenbild und diese Idee von Zusammenleben geht mit meinen Werten überein. Dass Menschen – auch Kinder – Wesen der Gemeinschaft sind und sich umeinander bemühen. Dass Menschen im Kern ihres Wesens und bei allen Freiheitsbestrebungen eben vor allem Beziehungswesen sind. Deshalb präferiere ich ein Miteinander, bei dem Jeder gleichwertig und wichtig ist. Ein Miteinander ohne Strafen und Gehorsamkeit. Wenn man sich diese Idee des Zusammenlebens zu Eigen machen will, geht es erstmal nicht um die einzelnen Tipps und Tricks in bestimmten Erziehungssituationen, sondern um das große Ganze. Um mich und darum wie ich die Welt sehe. Es lässt eigentlich viel Raum für Individualität. Denn was für den Alltag passt und richtig ist, kann eben für jede Familie anders sein. Hauptsache ist, dass alle Familienmitglieder mit ihren Wünschen und Sorgen gehört und mitbedacht werden. Die Lösung für das gleiche Problem kann bei fünf unterschiedlichen Familien fünf Mal unterschiedlich aussehen. Das finde ich halt super.

Weitergeben, was selbst nie gelernt wurde

Ich merke, dass es mir dank meiner eigenen Erziehung relativ leicht fällt an die beziehungsorientierte Erziehung anzuknüpfen. Ich finde viel von dem wieder, wie meine Eltern bereits mit mir umgegangen sind. Natürlich auch einiges nicht, aber der Grundtenor war für mich tatsächlich geprägt von einem Miteinander, dass ich meistens als auf Augenhöhe empfunden habe. Das ist in meiner Generation nicht immer so.

Eigentlich ist es bei der bedürfnisorientierten Erziehung so, dass sich im Miteinander jeder äußern kann und soll, jede Stimme soll gehört werden. Je nach Situation wird abgewogen, wessen Bedürfnisse in dieser bestimmten Situation nun am schwersten wiegen. Dieses Abwägen der Bedürfnisse erfordert aber einiges. Denn Eltern müssen die Bedürfnisse ihrer Kinder verstehen und sich dafür ein bisschen in der Entwicklung von Babies und Kindern auskennen, damit sie überhaupt realistisch einschätzen können, was sie von ihren Kindern erwarten können – und wo die Erwartungen überzogen sind, weil die Kinder entwicklungspsychologisch noch gar nicht soweit sind. Dann müssen Eltern sich selbst sehr gut kennen und und in verschiedenen Situationen ihr eigenes Verhalten reflektieren und analysieren können. Sie müssen wissen, wo ihre eigenen Grenzen sind und VORHER merken, wenn ihre Kinder dabei sind, diese zu übertreten, damit sie die Situation ruhig und gelassen klären können.

Ich erlebe, dass viele Menschen diese Dinge nicht gelernt haben. Das bedeutet, der wunderbare und notwenige Umschwung in Sachen Erziehung – von der autoritären hin zur bedürfnissorientierten Erziehung – wird, wenn man so will, von einer Generation vollzogen, die größtenteils selbst nicht kann (weil nie gelernt), was sie ihren Kinder nun versucht mitzugeben. Es ist klar, dass da eben auch ein bisschen schief läuft. Sie wollen einerseits ihren Kindern beibringen, wie diese ihre Grenzen wahren können und sollen, andererseits können sie oft genau das selbst nicht und so übertreten die Kinder häufig die Grenzen ihrer Eltern und Mitmenschen, ohne dass sie darauf eine Reaktion erhalten. Wie so häufig in der Geschichte, wenn das Pendel stark in die eine Richtung geschwungen ist, kommen die Nächsten und wollen es gaaanz anders machen. Ich finde es irgendwie logisch, dass häufig das Pendel nun zu stark in die andere Richtung ausschlägt. Nur weil es an der Umsetzung noch hapert, ist die Grundidee der beziehungsorientierten Erziehung aber trotzdem wegweisend.

Über Vorurteile und deren Ursprung

So kommen die Vorurteile gegenüber der bedürfnisorientierten Erziehung nicht von irgendwoher. Im Eingang dieses Blogs hab ich geschrieben, dass „Beziehungsorientierte Erziehung von uns Hippie-Eltern benutzt wird um zu entschuldigen, dass wir unsere Kinder nicht erziehen können“. Ja. Das ist ein bisschen ironisch gemeint. Habta gewusst, ne?! Ich muss es zugeben: Wenn mir früher so Chaotenkinder über den Weg gelaufen sind, die über Tische und Bänke gegangen sind, dann habe ich gedacht: „Sorry, aber meine Kinder werden das mit Sicherheit nicht tun. Da würde ich aber mal ne Ansage machen!“ Und nun stehen mein Mann und ich manchmal da, schauen auf unsere sich daneben benehmenden Kinder und „Ich-mach-halt- ne-Ansage“ lacht sich ins Fäustchen. Wir müssen solche Situationen natürlich auch klären, nur versuchen wir es eben ohne Zwang oder ohne unsere Kinder zu beschämen.

Andererseits höre ich dann eine Geschichte, dass Eltern mit ihren Kindern woanders zu Besuch sind. Dort springen die Kinder auf Tischen und Sofas umher. Die Eltern sagen nichts dazu. Wenn dann der Gastgeber die Kinder bittet von Tisch und Sofa runterzukommen, wird er von der Eltern verärgert angefahren, dass er nicht zu entscheiden hat, was die Kinder tun und lassen dürfen. Ja, da verstehe ich, wo die Vorurteile herkommen. Aber nochmal: Nur weil bei der Umsetzung einiges schief läuft, sind die Grundgedanken der Beziehungsorientierten Erziehung richtig und wichtig.

Grenzen setzen und Grenzen haben

Rumspringen auf Tisch und Sofa ist nicht grundsätzlich falsch (Whaaaat?!). Das wäre sonst nur ein Weil-man-das-halt-nicht-macht. Mein Mann und ich diskutieren das Thema immer wieder und unsere Kinder dürfen tatsächlich auch auf Sofa und Wohnzimmertisch raufklettern und rumspringen. Das haben wir so für uns entschieden, weil unser Wohnzimmer Gemeinschaftsraum sein soll, also auch den Kindern „gehört“.
Wenn wir woanders sind, dann gelten die dortigen Regeln. Kinder können das übrigens sehr wohl gut unterscheiden. Es ist unsere Aufgabe als Eltern, darauf zu achten, dass Menschen unterschiedlich sind und die Grenzen anderer Menschen geachtet werden. Oder das Umfeld zu verlassen, wenn wir die Grenzen und Regeln für unangebracht oder schädlich für unsere Kinder halten.

In der bedürfnissorientierten Erziehung ist es also nicht so, dass es keine Grenzen gibt. Es werden nur keine starren und künstlichen Grenzen festgesetzt. Jedes Das-ist-aber-wichtig wird überprüft. Ist es wirklich wichtig? Oder ist es nur in unseren Elternköpfen wichtig. Jedes Weil-man-das-halt-so-macht wird hinterfragt. Das ist gar nicht so leicht. Als unser Sohn sich Schokostreusel auf sein Leberwurstbrötchen gewünscht hat, hat alles in uns NEIN geschrien. Aber gleichzeitig essen wir beispielsweise Ziegenkäse mit Honig. Es gibt keine logische Erklärung, warum das eine in Ordnung sein soll und das andere nicht. Also gab es Leberwurst mit Schokostreusel (Bääh. Würg.).

Jeder Mensch hat Grenzen. Manche davon sind fest. Ich möchte zum Beispiel nicht gehauen werden. Andere hängen mit Gesundheitszustand, Tagesform oder Zeitplan zusammen. Wenn ich einen Hexenschuss habe, nehme ich meinen 4-jährigen Sohn nicht auf den Arm. Wenn mein Rücken in Ordnung ist, trage ich ihn abends auch mal die paar Meter in sein Bett. Weil ich weiss, dass er das liebt. Wenn ich Zeitdruck habe, dann müssen wir nach der Kita schnell nach Hause. Wenn wir keinen Termin haben, brauchen wir für einen 15-Minuten-Weg auch mal 45 Minuten und ich lasse meinen Sohn Ewigkeiten hier und dort schauen und hundertdrölfzig Steine einsammeln. Weil ich weiss, dass er das liebt.

Hallo Kaninchenloch

Ihr kennt das Kaninchenloch aus „Alice im Wunderland“? Alice springt einfach mal rein und hat keine Ahnung, was sie noch alles erwarten wird. Naja, ein Wunderland eben. So empfinde ich die Beziehungsorientierte Erziehung. Man fand die Grundidee gut. Man ist gesprungen. Und dann tapst man immer weiter ins Kaninchenloch und denkt plötzlich über tausend Dinge nach.

Was es alles bedeutet kann, wenn man Kindern zubilligt „nicht werden zu müssen“, sondern bereits „zu sein“, gleicht nämlich einem Wunderland: „Aber Kinder müssen doch erzogen werden!“ „Gras wächst auch nicht schneller, wenn man dran zieht!“ – „Aber man muss Kindern doch zeigen, wo es lang geht!“ „Was wäre, wenn jedes Kind kompetent genug ist, seinen ganz eigenen Weg zu finden und wir eher dafür da sind, diesen Weg zu begleiten.“ Ja, das Ganze kann also richtig philosophisch werden (ich finde sowas ja toll) und man braucht gedanklich etwas, um hinterher zu kommen. Vielleicht so, wie bei einer Teeparty mit dem verrückten Hutmacher.

Es lohnt sich auf jeden Fall, in das Kaninchenloch zu springen und sich das Wunderland der Beziehungsorientierten Erziehung anzuschauen. Manchmal ist es beängstigend, manchmal macht es einen wütend oder echt verrückt. Aber es ist auch bunt und voller Leben – voller Beziehung. Wenn man wieder rauskommt, aus dem Kaninchenloch, hat man mit Sicherheit viele kluge Erkenntnisse gesammelt. Über seine Kinder und sich selbst und das Leben, das man sich doch eigentlich wünscht.