Attachment Parenting 2 // Bitte keine Störungen

Ich habe hier schon darüber geschrieben, wie ich zum Thema Attachment Parenting gekommen bin und warum mein Mann und ich uns gerne eine Scheibe davon abschneiden. Hier schreibe ich nun darüber, was mir an AP nicht so richtig gefällt – gerade auch im Zusammenhang mit unserer Schreibabyreise.

AP oder nicht AP. Das ist hier (ständig) die Frage.

Wie ich bereits geschrieben habe, kann ich dem Grundgedanken von AP einiges abgewinnen. Ich mag das Menschenbild, das dahinter steht. Ich las das Buch „Das gewünschteste Wunschkind aller Zeiten treibt mich in den Wahnsinn“ und nahm viele kleine Ideen mit wie unser Miteinander als Familie noch entspannter sein könnte. Ab und an lese ich auf dem gleichnamigen Blog, vor allem, wenn mich ein bestimmtes Thema interessiert.

Dann trat ich in eine AP-Facebookgruppe ein. Und puuh, ich musste erstmal überlegen, ob ich hier richtig bin. Die sind sich untereinander so uneinig wie nur etwas. Da wird manchmal wirklich mit religiösem Eifer über Familienbett und Fremdbetreuung gestritten, über Stoffwindeln, Kurzzeit- und Langzeitstillen, Platikgeschirr, Loben und Kindersitze diskutiert. (Ich kann echt sehr gut verstehen, wie beispielsweise solche Artikel zu Stande kommen.) Und allzu oft ist das Ergebnis: „Das ist nicht AP. Du bist nicht AP!“ Da ich nicht sicher bin, wer genau das eigentlich entscheiden darf, möchte ich für mich auch lieber nicht beanspruchen, meine Kinder AP bzw. bedürfnisorientiert zu erziehen. Unser erstes Kind ist mit einem halben Jahr abgestillt gewesen, hat von uns den Schnuller regelrecht antrainiert bekommen, hat vor seinem ersten Geburtstag allein im Schlafzimmer geschlafen, wurde bereits mit drei Wochen von seiner Patentante (Alles, was nicht Mama ist, ist Fremdbetreuung!) allein durch den Park getragen und ist mit einem Jahr in die Kita (richtig böse Fremdbetreuung!) gekommen. Das alles bedeutet eigentlich echt schlechtes AP-Karma für uns, hab ich mir sagen lassen.

Also, wie auch immer man den Erziehungsstil nennen möchte, den mein Mann und ich hier so fahren: So wie ich es verstehe, finde ich AP echt gut und ich finde, es passt zu uns und unseren Überzeugungen. Ich finde es gut, immer wieder zu prüfen, ob sich mein Menschenbild, meine Überzeugungen und meine Werte auch wirklich in meiner Erziehung wiederspiegeln.

Dafür, dass diese Erziehung auf Individualität ausgelegt ist, gibt es zu viele pauschale Antworten.

So wie ich das verstanden habe, geht es bei AP darum, dass die jeweiligen Bedürfnisse und Grenzen aller Familienmitglieder geachtet und in Balance gehalten werden. Da Bedürfnisse und Grenzen sehr individuell sind, können Alltag und Regeln in verschiedenen Familien sehr unterschiedlich aussehen.

AP hat für Eltern also auch viel damit zu tun, sich selbst gut zu kennen und für sich selbst einstehen zu können. Da das aber viel schwieriger und anstrengender ist als ein starres Regelkorsett zu befolgen, suchen (und finden) viele AP-Anhänger irgendwie doch nach den allgemein gültigen Regeln für Alles und Jeden. Das führt dann, wie ich finde, zu oft dazu, dass zur Hilfe eigentlich nur AP-Basics runtergebetet werden (Ups, schon wieder religiöser Bezug). Es findet in meinen Augen selten eine Betrachtung der individuellen Situation statt. Vielleicht bin ich durch unsere Situation auch einfach nur „geschädigt“ was platte Antworten angeht. Aber wenn eine Mama verzweifelt schreibt, dass sie nicht mehr weiß, wie es weitergehen soll und sie nun seit 5 Monaten jeden Abend 3 Stunden mit einem permanent rumwuselnden Kind daliegt, was einfach nicht einschläft, und die Mama ist fertig und völlig übermüdet und muss jeden Tag zur Arbeit… dann nützt es doch nichts, wenn jede dritte Antwort lautet „Nur eine Phase, geht vorbei!“ oder die, die ganz Hardcore sind: „Genieß die Zeit, sie geht so schnell vorbei.“ Oder die Mama, die fragt, wie sie das mit dem Abstillen am besten hinkriegen kann, weil sie das Rumgezuppel nicht mehr ertragen kann und sie Bisswunden hat, und jede dritte Antwort sowas ist wie „Jetzt schon? Überleg dir das doch nochmal!“ und „Die sind doch noch so klein. Sie brauchen das noch.“ Achja, und natürlich auch wieder „Genieß die Phase, sie geht so schnell vorbei!“ Da muss ich manchmal an mich halten, nicht in die Tischkante zu beißen. So wahr diese Phrasen auch sein mögen, so wenig nützen sie einem in einer verzweifelten Situation.

Ich hab also hinsichtlich AP das Gefühl, dass eine eigentlich wunderbare Idee teilweise ad absurdum geführt wird. Das ist echt schade. Eine Vertreterin des Attachment Parenting, Nora Imlau, hat übrigens ein tolles Interview zur Entwicklung von AP gegeben. Sie hat die Schwierigkeiten gut auf den Punkt gebracht, wie ich finde.

Manchmal reicht Liebe eben nicht aus.

Was ich außerdem schwierig finde: Im Zuge von AP begegnet mir häufig eine Wald-und-Wiesen-Romantik á la “Mit Liebe wird schon alles gut”. Prinzipiell kann ich diesem Gedanken tatsächlich sehr viel abgewinnen. Das Problem mit solchen mantraartigen Grundsätzen ist oft, dass daraus unbewusst weitere Grundsätze entstehen: „Wenn es nicht gut ist, dann wird das Kind nicht genug geliebt“ und das bedeutet im AP-Kontext oft „…dann hast du nicht genug getragen / nicht genug gestillt / es mit dem Schnuller zugestöpselt / nicht (lang genug) im Familienbett geschlafen / es zu früh zu Jemand anderem auf den Arm gegeben / usw.“ Letztlich läuft es darauf hinaus „Du tust nicht genug. Du bist Schuld.“

Nein, aus eigener Erfahrung weiß ich: Manchmal reichen Luft und Liebe nicht aus um über die Runden zu kommen. Luft und Liebe reichen auf jeden Fall nicht aus, um ein permanent schreiendes Baby über Monate zu ertragen. Und ja, manchmal hat man genug getan. Manchmal gibt es nichts, was man noch tun könnte. Auch hier helfen keine oberflächlichen Betrachtungen und vermeintlich guten Ratschlägen. Manchmal macht man alles richtig und es ist trotzdem nicht alles okay. Und dann braucht man keine ultimativen Tipps, was man als Eltern noch alles besser machen muss: „Ihr müsst entspannter werden mit dem Kind. Entspannte Eltern haben entspannte Kinder.“ Wenn ich das nur vorher gewusst hätte, dann wären uns die letzten Monate erspart geblieben.

Ich will nicht falsch verstanden werden. Natürlich muss man sich bei Schräglage in der Eltern-Kind-Beziehung das Verhalten von uns Eltern anschauen. Mir geht es um die Brachialität mit der in AP-Kreisen, natürlich nicht nur dort, von A auf B geschlossen wird. Und zwar oft ohne eine individuelle Betrachtung, die sie aber doch so gerne propagieren.

Wenn ich es nicht sage, ist es auch nicht da.

Ebenfalls zur Wald-und-Wiesen-Romantik gehört der tolle Grundsatz „Jedes Kind ist wunderbar. Jedes Kind ist in Ordnung, so wie es ist.“ Auch diesen Grundsatz kann ich hundertprozentig unterschreiben! Aber auch hier gibt es dann die abgeleiteten Sätze, die ich gefährlich finde: „Es ist nicht möglich, dass etwas nicht ok ist, denn dann wäre das Kind nicht mehr wunderbar.“ Und irgendwie scheint das dann dazu zu führen, manchmal komplett die Augen zu verschließen: „Wenn ich bloß nicht ausspreche, dass etwas nicht ok ist, dann bleibt alles wunderbar.“
Ich bin der Meinung, dass es niemandem hilft, ein Problem zu verleugnen. Nur weil ich die Augen schließe, sind die Schwierigkeiten nicht weg. Und es kann so erleichternd sein, sagen zu dürfen, dass etwas nicht in Ordnung ist und vor allem, dabei gleichzeitig zu verstehen, dass mein Kind trotzdem wunderbar ist.

Was ist nun, wenn etwas mit meinem Kind „nicht in Ordnung“ ist? Viele Eltern und Verantwortliche wollen ihre Kinder nicht im Vorhinein brandmarken. Sie sollen keinen Stempel aufgedrückt bekommen und haben richtiggehend „Diagnose-Angst“. Denn Worte haben Macht. Worte schaffen Realität. Stichwort „Selbsterfüllende Prophezeiung“. Wie gesagt, ich kann diesen Ansatz sehr gut verstehen. Ich beschäftige mich sehr gerne mit Kommunikation, Sprache, Wörtern oder auch Marketing. Ja, Worte schaffen Realität! Das sollte uns bewusst sein. Ich finde es deshalb grundsätzlich auch nicht verkehrt, dass mittlerweile oft nach neuen Beschreibungen für „besondere Kinder“ gesucht wird. Da fallen Wörter wie “willensstark”, “hochsensibel”, “high need baby” oder “gefühlsstark”. Die Grenzen sind bewusst fließend gewählt.
An dieser Stelle möchte ich darauf hinweisen, dass es für fachliche Hilfe oft nötig ist, eine medizinische Diagnose zu erhalten. Wir können im SPZ begleitet werden, weil da „Regulationsstörung“ bei unserer Tochter auf dem Papier steht. Wenn da „gefühlsstarkes Kind“ steht, würde die Krankenkasse das vermutlich nicht übernehmen. Wenn man Hilfe braucht, sollte man sich Hilfe holen und keine Angst vor Worten haben.

Ich habe ja bereits darüber geschrieben, dass ich mein Baby trotzdem mit voller Absicht „Schreibaby“ nenne. Und dass es für mich wichtig ist, die Gedanken loszuwerden, die man nicht denken darf. Worte schaffen Realität. Ja! Aber nicht nur. Worte sind uns auch gegeben um die Realität beschreiben zu können. Und wie ich schon geschrieben habe, hilft es mir persönlich, starke Worte für meine starken Emotionen zu verwenden. Um das Gefühl zu haben, dass ich meine Situation korrekt beschreibe. Um mir selbst das Gefühl zu geben: Es ist ok, dass ich mich gerade so fühle. Für mich hat das alles etwas wunderbar therapeutisches.

Ich denke, es hat etwas mit dem „Jedes Kind ist in Ordnung“-Grundsatz zu tun, aber manche Menschen scheinen da sehr empfindlich auf medizinische Diagnosen zu reagieren; vor allem im Bereich von auffälligem Verhalten. Auch hier bin ich ja gar nicht dagegen, dass auch eine medizinische Diagnose kritisch hinterfragt werden kann. Aber ich habe mich jetzt schon öfters der Argumentation gegenüber gesehen, dass es beispielsweise ADHS gar nicht gebe. Dass es sich um neu-modische Erfindungen handelt, mit der man Kinder abstempeln würde, die vermutlich nicht genug geliebt (siehe oben) wurden. Eine Mutter in einer AP-Gruppe schrieb auch, dass sie nicht an so etwas wie „Regulationsstörung“ glaube. Dass sei doch Quatsch. Ja, tja, und ich sitze da mit meinem Baby, dass nach fünf Minuten unter Menschen schreiend zusammenbricht. Für mich ist so eine Aussage ein Schlag ins Gesicht. Denn eigentlich bedeutet es eben wieder: „Weil du unfähig bist, brauchst du eine Diagnose um deine Unfähigkeit zu verbergen.“

Ich finde so einen Umgang auch problematisch, weil Betroffene sich so natürlich nicht aus der Deckung trauen. Wenn du sowieso an dir selbst zweifelst und Andere dir das noch bestätigen und dich dafür verurteilen, dann fällt es dir viel schwerer, dich zu öffnen und Hilfe zu suchen. Es kann sehr gefährlich sein für ein Schreibaby, wenn die Eltern keine Hilfe suchen, weil sie denken, sie müssten es alleine schaffen.

Trotzdem Attachment Parenting.

Ja, jetzt hab ich mich echt genug aufgeregt. Wenn man einmal anfängt… Das oben beschriebene ist übrigens vor allem bei der Schwarmintelligenz im Internet zu finden. Bücher, Artikel und Beiträge von AP-Autoren machen mir einen differenzierteren Eindruck als die Schwarmintelligenz in einer Internetgruppe. Ich bin nach einigem Überlegen auch aus der Facebook-Gruppe ausgetreten und merke, dass es mir damit viel besser geht. Weniger Aufregung, weniger schlechtes Gewissen. Also: Wer sich damit beschäftigen will – und das kann ich echt empfehlen – der ließt besser ein gutes Buch als im Forum.

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