Ein paar Gedanken zum Attachment Parenting. Hier, was mir daran gefällt. Und dort, was mir nicht so gefällt.
Wie ich Attachment Parenting kennenlernte.
Ich hatte eigentlich immer einen großen Bogen um Ratgeber aller Art gemacht, obwohl ich gerne lese und gerne lerne. Als unser Sohn anderthalb oder zwei Jahre oder so war, meldete sich dann mein Pflichtbewusstsein und sagte: „Alter, du machst hier immer nur Pi-mal-Daumen, du musst dich mal informieren, nur zur Sicherheit, damit du das ganze Kinderdingens nicht an die Wand fährst“. Ich googelte nach Büchern. Mir wurde das Buch „Das gewünschteste Wunschkind aller Zeiten treibt mich in den Wahnsinn“ angezeigt und ja, ich gestehe, ich habe es vor allem einfach wegen des Titels gekauft. Ich hatte schließlich keine Ahnung, was ich wollte, und der Titel stach in der Masse von „geborgen“ und „liebevoll“ und „achtsam“ so schön heraus. Ich dachte nur: „Da hat jemand Humor. Das kann ja so verkehrt nich sein“. Ohne große Absicht schlitterte ich so in die Welt von „Attachment Parenting“, oder auch „Bedürfnisorientierte Erziehung“, „Bindungsorientierte Erziehung“ bzw. „Beziehungsorientierte Erziehung“.
Tatsächlich hatten mein Mann und ich unseren Sohn bereits sehr beziehungsorientiert erzogen, ohne den Namen zu kennen. Aber sich mit ein bißchen Theorie auseinanderzusetzen, zum Beispiel mit der Funktionsweise der Gehirns von Babies und Kleinkindern, war spannend und vor allem macht es einen sprachfähig in Diskussionen mit Großeltern oder Freunden. Ich finde ja generell immer gut, wenn man erklären kann, wieso man tut, was man tut.
Was hat Erziehung mit meinem Menschenbild zu tun.
Achtung, es wird ein bißchen philosophisch, vielleicht, oh Schreck, sogar religiös. Denn ich stelle fest, beim Thema Erziehung geht es nicht mehr und nicht weniger als um mein Menschenbild, also der Frage, wie ist der Mensch in seinen Grundfesten angelegt. Was macht unsere Spezies aus. Denn wie man mit Menschen umgeht, also auch wie man Kinder erzieht, sagt ganz viel darüber, was man über „den Mensch“ an sich denkt. Oft ist uns das nur gar nicht bewusst.
Da ich nun mal an Gott glaube, ist für mich auch wichtig, was Gott über den Menschen denkt, also wie er den Menschen „gemeint“ hat. Während meiner Glaubensreise haben sich Menschenbild, und auch Gottesbild (also die Frage „Wer und wie ist Gott?“), immer wieder verändert. Ich habe Ansichten verworfen und Ansichten gewonnen und mit mir und Gott immer wieder darüber diskutiert. Letztlich ist das Ergebnis in der Theorie keine Überraschung. Auf das meiste davon können wir uns wahrscheinlich alle einigen. Aber leben wir danach? Erziehen wir unsere Kinder nach diesen Prinzipien?
Wer ist der Mensch? Wie ist der Mensch?
- Ein Mensch muss nicht(s) werden, um zu sein. Ein Mensch hat seinen Wert in sich. Ein Mensch muss nichts leisten oder können, um ein Mensch zu sein.
- Ein Mensch muss geliebt (wem das Wort zu religiös ist, der möge dort „geachtet“ oder „respektiert“ einsetzen) werden, einfach nur dafür, dass er (da) ist.
- Ein Mensch darf seine eigenen Entscheidungen fällen und auch wenn ich sie nicht verstehe oder gutheiße, darf der Mensch für mich nicht weniger Mensch werden.
- Einem Menschen darf nicht mit Gewalt begegnet werden. Weder auf körperlicher, noch auf seelischer Ebene dürfen die Grenzen eines Menschen missachtet werden.
- Ein Mensch ist ein „Herdentier“, also nicht gemacht für’s grundsätzliche Alleinsein. Er kann und will und braucht andere Menschen. Er braucht Beziehungen, einen größeren Kontext, eine Gemeinschaft.
- Der Mensch ist in der Lage und – sehr wichtig! – grundsätzlich Willens für das Leben in Beziehung, einer Gemeinschaft, einem Verbund, zurückzustecken. Er kann sich selbst zurücknehmen zum Wohle Anderer.
- Der Mensch will lernen. Der Mensch lernt in Gemeinschaft. Durch Inspiration, durch Vorbild, durch zusehen und nachahmen. Er wird sich immer Inspiration und ein Vorbild suchen.
Wie ihr merkt, habe ich keine religiösen Bezüge mit reingenommen. Aber für all diese Punkte gibt es wunderschöne poetische Bibelstellen, die mir erzählen, dass Gott sich den Menschen so großartig überlegt hat.
Passt meine Erziehung zu meinem Menschenbild.
Kinder sind Menschen. Fertige Menschen. Das Attachment Parenting (so wie ich das verstanden habe) besagt im Prinzip, dass diese Grundsätze auch für Kinder gelten und eben auch in der Erziehung Beachtung finden müssen. Also, in der Gemeinschaft einer Familie sind alle Mitglieder gleichwertig. Es geht darum, tragfähige Beziehungen untereinander aufzubauen. Es geht darum, die unterschiedlichen Bedürfnisse unter einen Hut zu bekommen. Es geht darum, die Grenzen des Anderen zu achten. „Jaja“, werden die meißten von uns nicken. „Ist doch klar. Da sind wir uns doch alle einig“. Wenn man das bejahen kann, dann kommen weiterführend die herausfordernden Fragen: Sind wir als Familie ein Team oder bestimmen letztlich immer die Eltern? Sind Eltern und Kinder nur so lang „auf Augenhöhe“ wie es aus Sicht der Eltern „gut läuft“ oder auch, wenn Meinungen auseinander gehen? Können Kinder selbst wissen, was sie gerade brauchen oder müssen Eltern ihren Kindern beibringen, was sie zu brauchen haben? Müssen Kinder „hören“ (und sind wir ehrlich, wir meinen damit „gehorchen“) und warum müssen Erwachsene eigentlich nicht (zu)hören? Versuchen Kinder uns mit ihrem Verhalten mitzuteilen, was sie brauchen bzw. welche Nöte sie haben oder versuchen sie uns zu manipulieren um ihren eigenen, egoistischen Willen durchzusetzen? Müssen Kinder „gezwungen“ werden Bitte-Danke-Entschuldigung zu sagen oder tun sie es bald automatisch, wenn ihre Umgebung es ihnen vormacht? Alles spannende und berechtigte Fragen, wenn ich das oben beschriebene Menschenbild vertrete. Ich habe da auch nicht auf alles eine Antwort, aber es beschäftigt mich.
Noch so eine Frage: Wer lernt eigentlich von wem? Wer muss wem was beibringen? Kinder haben die vermeintlich verrücktesten Ideen, aber wenn man genau hinschaut, steckt unglaublich viel Logik hinter. Kinder-Logik ist oft viel logischer als Erwachsenen-Logik. Erwachsenen-Logik endet in der Argumentation ganz oft im Weil-man-das-halt-so-macht oder im Weil-man-das-eben-nicht-macht. Da hat unser Sohn mich oft mit zwei Jahren schon mächtig an die Wand argumentiert. Ich habe echt coole Dinge gelernt – und häufig muss man dafür vor allem seinen inneren Monk besiegen. Zum Beispiel, dass, wenn man eine Klappstulle mit Wurst und Käse belegen kann, man sie auch mit Wurst und Wurst belegen kann. Dass es eigentlich egal ist, wie rum man im Bett liegt und es kein Gesetz gibt, dass die Füße nicht auch mal auf dem Kissen liegen dürfen. Oder dass man Müsli zum Abendbrot und Nudeln zum Frühstück essen kann (Okay, das hatte ich mir noch aus Studentenzeiten behalten). Oder dass „Nachtisch“ nur ein Wort ist und man den Joghurt auch vor der Stulle essen kann (Stellt euch vor, von einem kleinen Joghurt ist man nicht pappsatt. Man kann dann locker noch zwei Stullen hinterher schieben). Oder – super wichtig – dass nicht das komplette System zusammenbricht, wenn man eine Entscheidung revidiert, landläufig auch „einknicken“ genannt. Das soll sehr gefährlich sein, weil einem das Kind da sofort auf der Nase rumtanzt. Erst etwas verbieten und 5 Minuten später erlauben. Da kommt so ein Kind ja gar nicht mit klar und denkt dann jedes Mal, dass ein Nein nach ein paar Minuten später zum Ja wird. So hab ich gedacht. Aber hab ich falsch gedacht. Ich hab’s ausprobiert. Alles, was mein Kind gelernt hat ist, dass man sich irren kann und dass man es ruhig zugeben kann, wenn man sich geirrt hat. Krasser shit. Wir haben immer wieder Ideen, die uns im Zusammenhang mit Attachment Parenting über den Weg gelaufen sind, einfach mal ausprobiert und sind wirklich erstaunt, manchmal sprachlos, wie gut unser Sohn weiß, was er wann wie braucht. Mittlerweile sind wir bei sowas verrücktem wie „Selbstbestimmtes Schlafengehen“ und „Selbstbestimmte Tablet-Nutzung“ gelandet. Die damit einhergehende Freiheit ist so herrlich, so entspannt. Eltern und Kind „müssen“ so wenig und haben deshalb einfach weniger Grund für Streit. Also, wir können diesem Umgang wirklich sehr viel abgewinnen. Es hat unser Famlienleben bereichert und uns drei wunderbar entspannte Jahre mit erstem Kind beschert. Wie das ganze mit zwei Kindern klappt, dazu kann ich noch nichts sagen.
Fun-Fact-Überlegung zum Schluss.
Sowohl die Christen als auch die Anhänger des Attachment Parentings sind sich oft uneinig darüber, wie die Theorie in der Praxis aussehen soll. Wie die Grundsätze im täglichen Leben, im Alltag, im Umgang mit den Mitmenschen umgesetzt werden, darüber herrscht oft große Uneinigkeit. Einige sagen, der Segen für eine gleichgeschlechtliche Partnerschaft ist mit unserem Menschenbild vereinbar, Andere verneinen das. Einige sagen, das Kind mit einem Jahr in die Kita zu geben ist mit unserem Menschenbild vereinbar, Andere verneinen das. Da kann es schon mal zu (Glaubens)kriegen kommen.
Christen bezeichnen ihren Gott ja auch als „Vater“, als jemanden, der „erzieht“. Oder als jemanden, der „in Beziehung steht“. Das jeweilige Gottes- bzw. Menschenbild bestimmt, ob man die Gott-Mensch-Beziehung als Attachment Parenting wahrnimmt oder nicht. Und daraus wiederum resultiert eigentlich das komplette Glaubensleben. Je mehr ich darüber nachdenke, desto mehr Parallelen fallen mir auf. Vielleicht schreibe ich eine Predigtreihe mit Thema „Was wir vom Attachment Parenting über Gott lernen können – oder umgekehrt.“