Erstvorstellung im SPZ

Wir wissen wirklich nicht mehr weiter. Es kann ja sein, dass „nun mal alle Babies ab und an schreien“. Es kann sein, dass wir einfach zu empfindlich sind. Es kann sein, dass wir eben nicht belastungsfähig sind. Und ja, es kann sein, dass „da alle Eltern schon mal durch mussten“ und „wir das ja alle kennen“.

Wir schaffen es nicht mehr. Wir mussten irgendwas tun. Unsere Hebamme hatte bereits von Schreibabyambulanzen erzählt. Wir kannten den Namen auch noch; das Ganze stand bei unserem Sohn auch schon im Raum. Also googelte ich erst einmal danach und war eher erschlagen. „Schreibabyambulanz“ scheint kein geschützter Begriff zu sein. Woher weiß man, wohin man sich wenden soll? In so einer Situation ist Herumsuchen und Trial-and-Error das Letzte, was man brauchen kann. Also schrieb ich wieder mit unserer Hebamme, die dann auch ein paar Empfehlungen für uns hatte. (Ein Hoch auf die wunderbaren Hebammen in unserem Leben!) Andere Eltern hätten gute Erfahrungen mit einem SPZ an einer Berliner Klinik gemacht.

Für die, denen es nichts sagt: SPZ bedeutet Sozialpädiatrisches Zentrum. In unserem Fall ist dieses an der Kinder- und Jugendklinik angegliedert. Dort können Kinder und Jugendliche mit chronischen Erkrankungen vom Säuglings- bis zum Schulkindalter betreut werden (sagt die Website). Gearbeitet wird in multiprofessionelles Teams: Kinderärzte mit verschiedenen Spezialisierungen, Ergo- und Physiotherapeuten, Psychologen, Sozialarbeiter, Logopäden, Heilpädagogen undsoweiter. Es kann also „von allen Seiten“ auf’s Kind geschaut werden.

SPZ also. Gut, wir riefen gleich an. Wir wussten auch, dass das Ganze ein wenig mit Warten verbunden ist. Mit älteren Kindern kann man auch schon mal ein halbes Jahr auf einen Termin zur Erstvorstellung warten. Man sagte uns, dass man bei Säuglingen natürlich bemüht sei, die Aufnahme zeitnah hinzukriegen.
Eine Woche nach der Kontaktaufnahme riefen sie eines Morgens an. Ob wir zufällig in zwei Stunden da sein könnten? Jemand habe abgesagt. Wir waren eigentlich verabredet, weshalb mein Mann ablehnte. Als er mir zwei Minuten später von dem Telefonat erzählte, sagte ich wohl ein paar nicht-nette Dinge zu ihm. Also rief er schnell wieder im SPZ an und fragte, ob der Termin noch frei sei. Seine Frau würde ihn sonst einen Kopf kürzer machen.

Anderthalb Stunden später fuhren wir schon ins Parkhaus der Klinik. Unsere Tochter war im Auto eingeschlafen. Wir konnten es nicht fassen. Sie schläft nie im Auto ein. Sie ließ sich dann auch ziemlich gut vom Autositz in den Kinderwagen verfrachten und ließ sich entspannt durch die Klinik kutschieren – vom Parkhaus zum Gebäude des SPZ war es eine kleine Strecke. Wir meldeten uns vorne, gaben den Anamnesebogen ab und saßen dann auf einer Bank im Flur um auf die für uns zuständige Kinderärztin zu warten.
Während wir warteten musste ich schon wieder heulen. WTF. Warum liegt sie da und schläft? Ich hatte unfassbar große Panik, dass man uns wegschicken würde. In meinem Kopf spielte sich die Szene schon ab: „Ihre Tochter schläft gerade im Kinderwagen, was wollen sie denn hier? Sie kommen hier her, in eine Klinik, weil ihr Baby ab und zu schreit? Ist das ihr Ernst?“ Mir war kotzübel. Mein kluger Mann sagte, ich solle doch erstmal abwarten.

Glücklicherweise bewahrheiteten sich meine Befürchtungen nicht. Die Kinderärztin setzte sich mit uns um einen Tisch und ließ uns erzählen. Wie unsere Tage aussahen. Was wir versuchten um das Schreien zu verhindern. Wie wir ständig daran scheiterten. Dass unsere Tochter fast den ganzen Tag nicht schlief, obwohl wir den Eindruck hatten, dass sie Schlaf dringend bräuchte. Dass wir einfach nicht mehr wissen, was wir machen sollen und vor allem, dass wir nicht wissen, wie lange wir das weiter so schaffen. Sie glaubte uns. Sie schien uns auch nicht für Weicheier zu halten. Sie sagte, dass sich das alles sehr anstrengend anhöre. Wenn man selber ständig überlegt, ob man übertreibt (obwohl man gleichzeitig Angst hat, dass einem bald die Sicherungen durchknallen), ist das einfach schön zu hören.

Dann untersuchte sie unsere Tochter, die während des ganzes Gespräches friedlich im Kinderwagen gelegen hatte. Sie schaute sie genau an, absolvierte verschiedene „Manöver“ mit unserer Tochter. Es schien keine „besondere“ Untersuchung; eigentlich wie die U-Untersuchungen bei unserem Kinderarzt. Unsere Tochter war friedlich und sagte keinen Mucks (Will sie uns verarschen?). Erst gegen Ende fing sie immerhin ein bißchen an zu Jammern (Na bitte, geht doch).

Was der Ärztin gleich auffiel, waren die großen, wachen Augen unserer Tochter, die permanent umherblickten und die Umgebung aufzusaugen schienen. Natürlich war uns das schon aufgefallen. Es ist auch eins der ersten Dinge, die Andere uns sagen, wenn sie unsere Tochter beobachten. Manche Babies sind halt besonders aufmerksam, oder?

Die Kinderärztin erklärte uns, was eine Regulationsstörung ist. Unsere Tochter sei sehr wahrscheinlich ständig reizüberflutet, weil sie nicht im gesunden Maße in der Lage war, die Umgebungsreize zu verarbeiten bzw. auch mal wegzublenden. Durch die Überforderung schreie sie dann. Die Theorie war erstmal einfach zu verstehen, aber wenn man weiter darüber nachdenkt, bleibt es eben ziemlich abstrakt. Es ploppen die Fragezeichen im Kopf. Vor allem darüber, was das für den Alltag bedeutet, schien uns die Ärztin nichts konkretes sagen zu können. Das frustrierte mich schon wieder ungemein, denn ich wollte die Checkliste, was jetzt zu tun sei. Die Ärztin erklärte, dass wir nun mit einer Ergotherapeutin vom SPZ arbeiten würden. Sie würde uns dann weiter über die Hintergründe der Regulationsstörung informieren und mit uns gemeinsam schauen, was für uns hilfreich sein könnte.

Wir machten uns auf den Heimweg. Der ganze Spuk hatte nun einen Namen. Aber ist das nun positiv oder negativ? Hilft uns das irgendwie? Die Köpfe rauchten.

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