Eigentlich wollten mein Mann und ich immer „mehrere Kinder“, manchmal sogar „viele Kinder“. Wir mögen Kinder. Wir finden sie toll. Das Leben mit Kindern macht Spaß. Theoretisch. Nein, doch. Bestimmt.
Unser Sohn hat als Baby geschrien. Sehr viel. Beim ersten Kind hat man ja noch keine Ahnung. Das Kind ist da. Es schreit viel. Man denkt, das muss so. Jeder weiß, dass ein Baby schreit. Wenn man bei Anderen vorsichtig durchblicken lässt, dass das Baby sehr viel schreit und man echt fertig ist, dann bekommt man wissende Blicke und die Worte „Ja, ach Mensch, die erste Zeit… da müssen alle Eltern durch.“ Als dann die ersten Leute die Schreiattacken unseres Sohnes mitbekamen, gab es dann doch mehr und mehr Kommentare wie „Mmh, also das ist schon echt krass. Meine Güte!“ oder „Kenn ich so nicht. Das ist schon n bißchen drüber.“ oder „Ich denk nicht, dass das normal ist. Habt ihr überlegt, ob ihr da was machen solltet?“ Nach ungefähr zwei Monaten waren wir mit unserem Sohn beim Orthopäden, der gleichzeitig Chiropraktiker, auch speziell für Babies, ist. Er löste Blockaden am Halswirbel. Danach brach für uns ein neues Zeitalter an. Ich muss das so episch schreiben, damit man sich ansatzweise die Bedeutung vorstellen kann. Ein paar Stunden später, am selben Tag, legte ich unseren Sohn nach dem Stillen kurz neben mich um hektisch und panisch meine Klamotten zu richten. „Hektisch“ und „panisch“ waren Dauerzustand bei mir. Die Zufriedenheit nach dem Stillen würde nur 10 Sekunden dauern. Als ich mich zur Seite drehte um ihn wieder hochzunehmen… lag er da und war eingeschlafen. Ich starrte ihn an. Und ich fragte mich, was zum Geier nochmal hier gerade passierte. Es dämmerte mir und ein bißchen weinen musste ich dann auch. Ich bekomme jetzt manchmal noch Gänsehaut, wenn ich an diesen Moment denke. Unser Sohn war ein anderes Kind. Er konnte gut schlafen. Er war aktiv und fröhlich. Er war entspannt. Und langsam entspannten wir uns auch.
Ich hatte damals zufällig auf Little Years diesen Artikel gelesen. Und, genau, ich hab gleich losgeheult. Es stimmte alles. ALLES! Phantomschreien, Selbstzweifel und die Kommentare der Anderen. Und ich weiß noch, wie ich dachte: „Oh Gott. Das zweite wurde bei ihr auch so. Das könnte ich nicht. Ich würd’s nicht schaffen.“ Ich hatte solche Panik vor einem weiteren Kind, aber irgendwann werden die Erinnerungen etwas blasser. Während der zweiten Schwangerschaft hatte ich mir immer wieder gesagt, dass es doch sehr unwahrscheinlich ist, dass das zweite Baby auch wieder schreien wird. Ich dachte, selbst wenn, wir würden unser Baby so oder so beim Chiropraktiker vorstellen. Für alle Fälle. Und spätestens danach wäre alles gut. Ich war die meiste Zeit relativ entspannt in der zweiten Schwangerschaft. Unsere Tochter kam auf die Welt und ab Nacht Eins brüllte sie um ihr Leben. Und ich dachte, ich bin im falschen Film.
Also, so ein Schreibaby hat definitiv Einfluss auf die Familienplanung. Nicht nur bei uns: Als wir bei unserer Tochter dabei waren alle Babyberuhigungstipps rauf und runter auszuprobieren, hatten wir auf Ebay Kleinanzeigen eine Federwiege gekauft. Denn, O-Ton vieler Eltern, deren Babies nur rumgetragen werden wollten: „Die hat uns das Leben gerettet.“ Wir wollten auch, dass uns Jemand das Leben rettet! *Hust* Tja, naja, brauchen wir nicht drüber reden. War total für’n Arsch. Wir haben sie wieder weiter verkauft. Abgeholt wurde sie dann von einem netten Elternpaar mit einem ebenfalls 4-Monate-altem Baby, das ebenfalls sehr viel schrie und dessen Eltern ebenfalls ziemlich verzweifelt waren. Ich spüre ja immer so eine Verbundenheit, vielleicht auch Solidarität. Seit den Schrei-Monaten unseres ersten Kindes geht es mir sehr Nahe, wenn ich von hilflosen Eltern mit ihren brüllenden Säuglingen höre oder lese. Der kleine Mann dieser Eltern hatte einmal so lange geschrien und die Eltern waren so erschöpft und hoffnungslos, dass sie mit ihm in eine Notaufnahme gefahren sind und zwei Tage stationär in die Klinik aufgenommen worden sind. Wie furchtbar muss es ihnen gegangen sein. Das hat mich betroffen gemacht. Als sie gingen, sahen sie noch in das Kinderzimmer unseres großen Sohnes. Der Papa sagte bedauernd: „Ihr habt immerhin schon eins. Bei uns wird’s das wohl gewesen sein.“ Ich fand das irgendwie so traurig. Aber wie sehr kann ich ihn verstehen.
Apropos Verbundenheit und Solidarität. Das empfinde ich vielleicht nicht als Einzige so. Ich habe auf Facebook irgendwie irgendwo etwas kommentiert und in dem Zusammenhang von unserem Baby mit Regulationsstörung geschrieben. Mein Kommentar erschien in der Timeline einer alten Schulfreundin, mit der ich Abi gemacht hatte. Wir haben uns ewig nicht gesehen, gehört oder geschrieben. Aber da ploppt mein Messenger auf und sie erzählt mir, dass sie meinen Kommentar gelesen hat und fragte, ob wir irgendwo Hilfe hätten. Ihre Tochter ist heute 4, aber noch über das erste halbe Jahr hinweg hat sie furchtbar schlimm geschrien. Nach ihren Erzählungen noch mehr und noch extremer als unsere Tochter. Sie waren in einem DBZ in guter Betreuung; sie hat mir gleich die Nummer gegeben. Und nun stand sie kurz vor der Geburt ihres zweites Kindes und wir schrieben noch darüber, wie sehr die Frage „Kind? ja/nein“ von der Erfahrung mit den kleinen Brüllaffen bestimmt wird. Sie sagte, es hätte lange gedauert bis sie sich für ein weiteres Kind entscheiden konnten und nun, so kurz vor der Geburt, war ihr auch ein bißchen mulmig.
Wer ein Baby hatte, das einen um den Verstand gebrüllt hat, der kann die Frage nach einem weiteren Kind nicht mehr mit Leichtigkeit beantworten. Da geht es nicht einfach um die Frage „Will ich ein weiteres Kind?“, sondern um die Frage „Würde ich es theoretisch nochmal schaffen durch die Hölle zu gehen?“ (Ja, ein bißchen pathetisch, ich weiß) Mich macht es traurig, daran zu denken, dass ich mich vielleicht von einer Lebensplanung, einem Traum, verabschiede, nur weil ich riesige Panik davor habe, dass sich die Geschichte wiederholt. Mein Mann ist bisher noch nicht eingeknickt. Er träumt weiter von VW Bus und Fußballmannschaft. Ich bewundere ihn wirklich dafür. Klar, der Wunsch nach mehreren Kindern ist auch bei mir nicht einfach weg. Aber mein Puls geht auf 180 und mein Herz fängt an zu rasen, wenn ich nur im hintersten Winkeln meines Hirns darüber nachdenke. Obwohl ich auch dazu neige, widerspenstig zu werden, wenn ich das Gefühl habe, jemand (und seien es die Umstände) will mir was aufzwingen. Ich tendiere dann zu „Ihr könnt mich mal. Jetzt erst recht!“ Naja, wir werden sehen…
ich sag, weniger als du
du sagst, weniger als gar nicht
aber ich hab schon die augen zu
du sagst, du bist so müde
ich sag, das ist schlecht
das ist liebe, das ist liebe, jetzt erst recht